Die Mädchenwiese
Schreibtischstuhl fallen ließ. Gemeinsam überflogen sie Lisas E-Mails der letzten vier Wochen. Einige waren von ihren Freundinnen oder anderen Bekannten, deren Namen Laura zumindest schon einmal gehört hatte. Ein älterer Freund wurde nicht erwähnt.
Sie schauten sich auch Lisas Facebook-Seite an, besonders die Foto-Alben. Es gab Aufnahmen von Lisas letztem Ausflug mit der Schule. Von der Geburtstagsparty ihrer Freundin Carmen. Von einem Aufenthalt in Schweden – dem letzten glücklichen Urlaub mit ihren Eltern. Manche der Bilder ließen Laura lächeln, beim Anblick anderer krampfte sich ihr Herz zusammen.
Fast war sie erleichtert, als ihr Handy klingelte, weil es sie ein wenig von ihren betrüblichen Gedanken ablenkte. Als sie jedoch sah, wer sie anrief, zögerte sie.
»Willst du nicht rangehen?«, fragte ihr Schwager.
Laura führte ihr Handy ans Ohr. »Hallo, Patrick.«
»Laura, Liebes, ist alles in Ordnung? Du hast nichts von dir hören lassen.«
»Ja, es tut mir leid, es ist …« Sie geriet ins Stocken, während sie Frank dabei beobachtete, wie er die Chronik von Lisas Webbrowser anklickte. Die meisten der Seiten, auf denen ihre Tochter gewesen war, kannte Laura. YouTube. Twitter. Aber nirgends fand sich etwas, das Aufschluss über ihren Freund oder ihren Verbleib gab.
»Laura?«, fragte Patrick.
»Ja, ich weiß.« Sie konzentrierte sich wieder auf das Telefonat. »Es ist alles so … schwierig.«
»Wegen deiner Tochter? Was ist mit ihr?«
Lauras Schwager öffnete Skype. Lisa hatte sich dort ein Profil eingerichtet.
»Nun sag schon«, rief Patrick. »Was ist los?«
Es waren einige Chats gespeichert, die Lisa mit Carmen geführt hatte. Kurze Protokolle verschiedener Nachrichten, bei deren Anblick Lauras Herz blutete.
Vor dem Jugendclub standen ein paar ältere Jungen. Auch der Typ, der Sam am Morgen Schwuchtel genannt hatte.
Sam machte kehrt. Er blieb im Schatten der Bäume am Dorfplatz stehen, als er seinen Vater sah. Dieser hastete an ihm vorüber auf die Jugendlichen zu. Der Wind trieb einige Wortfetzen ihrer Unterhaltung zu Sam hinüber. Keiner der Jugendlichen konnte etwas über Lisas Verbleib sagen.
Während Sams Vater in das Gebäude eilte, schlurften die Jugendlichen zum Brunnen. Instinktiv wich Sam hinter einen Strauch zurück. Dort wartete er, bis sie außer Sichtweite waren. Kurz darauf trat sein Vater wieder ins Freie, rannte über die Straße zu seinem Auto und fuhr davon.
Sam verließ sein Versteck und betrat den Club. Im Flur erschwerten Möbelstücke und gestapelte Pappkartons den Zugang zum Aufenthaltsraum, in dem er auf den Betreuer traf. Dieser stand vor einem Billardtisch und hielt zwei Kugeln in der Hand.
»Oh, hallo Sam«, grüßte Ben. »Dein Vater war gerade da.«
»Ich weiß. Hat er nach Lisa gefragt?«
»Ja, hat er.« Der Betreuer warf die Kugeln in einen Plastikbeutel und verstaute sie mitsamt der Queues auf einem Regal. »Aber ich weiß nicht, wo deine Schwester ist. Ich hab’ sie seit Wochen, nein, schon seit Monaten nicht mehr gesehen. Früher war sie oft im Club, das weißt du ja, aber in letzter Zeit … Nein.«
Sam presste die Händflächen gegeneinander. »Und du weißt nicht, wo sie ist?«
»Dein Vater hat was von einem Freund in Berlin gesagt, bei dem Lisa am Wochenende war. Aber wenn ich ihn richtig verstanden habe, hast du ihm davon erzählt.«
Sam nickte und dachte bedrückt: Ich hab’ mein Versprechen gebrochen.
»Siehst du.« Ben stemmte einen Pappkarton hoch. »Dann weißt du, wo deine Schwester ist. Bei ihrem Freund. Sie hatte einfach keine Lust, nach Hause zu kommen.«
»Meinst du?«
»Na ja … Du weißt ja, ich habe viel mit jungen Menschen zu tun, ich kenne mich ein bisschen aus. Viele haben Probleme zu Hause und …« Er hielt inne und beobachtete Sams Reaktion.
Dieser senkte betrübt den Kopf.
Ben stellte den Pappkarton ab. »Manche Mädchen oder Jungs bleiben etwas länger von zu Hause weg. Einen Tag oder ein Wochenende. Dann kehren sie wieder heim. So ist es immer.«
Sam nickte, denn solche Gedanken waren ihm nicht fremd. Auch er verspürte manchmal keinerlei Lust, nach Hause zu gehen. Deshalb ging er so gerne in den Wald. Dort hatte er seine Ruhe, und niemand verspottete ihn oder wies ihn zurecht.
»Sie kommt bestimmt bald wieder heim«, sagte der Betreuer.
»Ja«, pflichtete Sam ihm bei, »sie hat es mir versprochen.«
»Na, da hast du’s.« Ben hob die Kiste wieder an. »Kein Grund zur Sorge.« Er schleppte das Paket
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