Die Magd von Fairbourne Hall
verinnerlicht. Der Himmel mochte ihr beistehen, wenn irgendjemand jemals herausfand, dass sie das nicht nur einmal getan hatte, sondern monatelang jeden Morgen.
Sie holte tief Luft, öffnete Nathaniel Upchurchs Tür, schlüpfte rasch hinein und schloss die Tür gleich wieder hinter sich, damit nicht etwaige Geräusche vom Flur den Schläfer störten. Doch es war zu spät; der Schläfer war anscheinend schon gestört worden. Nathaniel warf den Kopf hin und her, doch seine Augen blieben geschlossen. Was um alles in der Welt war da los?
Ein Bein, ein dunkel behaartes Bein, kam unter dem Betttuch hervor. Mit heißen Wangen wandte sie den Blick ab. Sie stellte den Wasserkrug hin, stellte zu ihrer Erleichterung fest, dass der Nachttopf leer war, und wandte sich zum Gehen. Doch Nathaniel stöhnte, als leide er großen Schmerz. Offenbar hatte er einen schlechten Traum. Einen sehr schlechten Traum. Sie riskierte noch einen Blick, obwohl sie wusste, dass sie gehen sollte, bevor er aufwachte. Was wäre das für ein herbes Erwachen, wenn er feststellen musste, dass ein Hausmädchen auf ihn herunterblickte?
Er stöhnte wieder – ein qualvoller Laut. Wenn er doch nur einen Kammerdiener hätte, den sie wecken könnte, damit dieses Elend ein Ende hatte! Doch sie war ganz allein.
Eine Welle dunklen Haars fiel ihm in die Stirn und da er die Augen, die sonst oft so durchdringend auf sie gerichtet waren, geschlossen hatte, sah er in diesem Moment jünger und verletzlicher aus, weniger gefährlich. Einen Moment lang erinnerte er sie an Gilbert, der als Kind häufig unter schrecklichen Albträumen gelitten hatte. Sie hatte ihn immer aufgeweckt, getröstet und ihm das Haar aus der Stirn gestrichen.
Zögernd trat sie einen Schritt vorwärts. Im trüben Morgenlicht, das durch die Fensterläden hereinsickerte, sah sie, wie sich Nathaniels Gesicht verzog. Der arme Mann! Was er wohl gerade träumte?
Wenn sie ihm etwas ins Ohr flüsterte, würde der Traum vielleicht aufhören oder sich doch wenigstens verändern, ohne dass er dadurch aufwachte; dann konnte sie immer noch unentdeckt aus dem Zimmer schlüpfen.
Sie trat noch einen Schritt näher ans Bett heran und beugte sich darüber. »Sir«, flüsterte sie. »Sir?« Zögernd legte sie ihm eine Hand auf die Schulter, eine Tollkühnheit, wie sie sehr wohl wusste.
Seine Hand schoss vor und packte sie am Arm. Sie schnappte nach Luft. Seine Augen öffneten sich, doch er hatte noch den vagen, unbestimmten Blick, den sie aus der Zeit, da Gilbert unter Schlafwandeln litt, kannte. Seine Augen mochten offen sein, aber Nathaniel Upchurch schlief trotzdem noch.
Sie versuchte, ihren Arm zu befreien, doch sein Griff war zu fest. »Sir, Sie träumen. Wachen Sie …«
Er rollte sich zu ihr hinüber und packte auch ihren anderen Arm. »Margaret?«
Ihr Herz machte einen Satz. Träumte er von ihr oder von einer anderen Margaret?
»Kann sie nicht retten …« Der raue Ton seiner Stimme berührte ihr Herz.
»Sir. Es ist alles in Ordnung«, beschwichtigte sie ihn. »Sie sind in Sicherheit.« Sie zögerte, dann hob sie eine Hand und tätschelte ihm verlegen den Arm. »Margaret ist in Sicherheit.«
Plötzlich zog er sie zu sich herunter. Sie verlor das Gleichgewicht und fiel neben dem Bett auf die Knie. Er zog sie noch dichter an sich, bis ihre Gesichter sich ganz nah waren.
Margaret war so überrascht, dass sie sich seinem Griff nicht schnell genug entwinden konnte, ja, sie war nicht einmal sicher, ob sie es wollte. Nathaniel Upchurch träumte von ihr, berührte sie, wollte sie küssen. Träumte sie vielleicht auch?
Sie spürte seinen heißen Atem auf der empfindlichen Haut ihrer Oberlippe.
»Margaret …« Es war zum Teil ein Stöhnen, zum Teil klang es wie ein Grollen.
Plötzlich empfand sie eine süße, brennende Sehnsucht, den Raum zwischen ihnen zu überbrücken. Sie beugte sich herunter und ihrer beider Lippen begegneten sich in einer federleichten Berührung. Ihre Nerven vibrierten. Sein zur Seite geneigter Kopf vertiefte den Kuss; er presste seinen Mund auf den ihren, heiß und leidenschaftlich. Ihr Kopf drehte sich, ihr Herz raste.
Was machte sie da? Der berauschende Kuss hatte sie völlig überrascht. Sie hatte niemals eine so heftige, leidenschaftliche Umarmung erwartet, nicht von einem Mann, den sie früher einmal für ängstlich gehalten hatte. Ein Mann, der nicht weiß, was er tut , rief sie sich ins Gedächtnis. Der träumt .
Sie hingegen wusste sehr genau, was sie tat. Sie
Weitere Kostenlose Bücher