Die Magier 04. Kinder der Ewigkeit - Le Doyen Eternel
wieder ihrer Arbeit zuwandten. Nur die Kinder und einige Neugierige musterten die Fremden von Kopf bis Fuß, was Lana ganz verlegen machte.
»Können wir die Leute denn einfach so behelligen?«, fragte die Priesterin. »Ist das nicht unhöflich?«
»Mach dir keine Sorgen, Freundin Lana«, beruhigte sie Bowbaq. »Der Rentierklan ist berühmt für seine Gastfreundschaft.«
»Aber warum beachten sie uns dann kaum? Niemand traut sich, uns anzusprechen!«
»Das dürfen sie auch nicht, solange wir noch nicht bei ihrem Anführer vorgesprochen haben«, erklärte der Riese. »Das wäre unhöflich.«
»Eine merkwürdige Sitte«, sagte Léti.
»Warum? Das leuchtet doch sofort ein«, entgegnete Bowbaq. »Solange wir den Anführer nicht um Gastfreundschaft gebeten haben, sind wir Fremde, die man in Frieden zu lassen hat. Wenn ein Reisender das Dorf durchqueren will, ohne mit jemandem zu sprechen, ist das sein gutes Recht.«
»Mir leuchtet das nicht ein«, beharrte die junge Frau. »Man könnte sich doch auch bei jemand anderem einquartieren wollen.«
»Aber nein!«, widersprach Bowbaq entsetzt. »Das wäre sehr unhöflich!«
Corenn lachte und beendete damit das Gespräch. Die beiden wären sich ohnehin nicht einig geworden. Als Mitglied des Ständigen Rats von Kaul kannte sie die Sitten und Bräuche Arkariens wie auch die der meisten anderen Königreiche der bekannten Welt genau. Sie wusste, dass die Eintracht im Weißen Land auf zahlreichen sonderbaren Gepflogenheiten beruhte.
Also begaben sie sich zum Haus des Anführers, einem imposanten Gebäude, dessen Fassade mit einem Dutzend Rentiergespannen aus Holz geschmückt war.
»Der Anführer wohnt immer im größten Haus«, erklärte Bowbaq und ging zur Tür. »Schließlich nimmt er auch alle Gäste bei sich auf. Manche haben sogar zwei Häuser«, fügte er hinzu und betätigte den bronzenen Türklopfer.
Zur Verblüffung seiner Gefährtinnen trat der Riese ein, ohne eine Antwort abzuwarten. Das hätten sie wiederum unhöflich gefunden! Die arkischen Sitten waren wirklich verwirrend.
Trotzdem folgten sie Bowbaq, der sich bereits den Schnee von den Stiefeln klopfte. Anscheinend war die Diele auch dafür gedacht, denn auf einem Gestell standen bereits einige Paar Schuhe, unter denen sich schmutzige Pfützen gebildet hatten.
Eine ältere Frau, die ihr Haar zu einem langen Zopf geflochten hatte, trat durch eine der Türen und trocknete sich dabei die Hände an einer Schürze ab. Der unangekündigte Besuch schien sie weder zu überraschen noch zu verärgern. Offenbar war sie daran gewöhnt.
»Nish’e lo gën jtorn?«, fragte sie freundlich.
»Meine Freunde sprechen nur Itharisch«, sagte Bowbaq hastig und wurde ganz verlegen.
»Ah!«, rief die Frau. »Ich … bitte Euch … über Verzeihung«, fuhr sie mit sichtlicher Mühe fort. »Mein Mann … ist …«
Sie beschloss, ihnen mit Gesten vorzuführen, was sie sagen wollte. Die Erben verstanden, dass der Hausherr gerade Holz hackte.
»Ihr … wartet«, ergänzte sie mit einem warmen Lächeln.
Nachdem Bowbaq ihr ebenso freundlich gedankt hatte, kehrte die Gastgeberin wieder zu ihrer Hausarbeit zurück. Vermutlich lag ihr nicht viel daran, das mühevolle Gespräch fortzusetzen.
»Ich muss sagen, ich bin angenehm überrascht«, sagte Lana und zog die Fäustlinge aus, die ihr viel zu groß waren. »Ich hätte nicht gedacht, dass die Leute hier Itharisch sprechen.«
»Die Arkarier sind sehr gläubig«, erklärte Bowbaq, während er seine Pelze ablegte. »Bei uns leben einige Maz, die von Dorf zu Dorf ziehen und Gebete sprechen. Was sie über Eurydis sagen, ist vielleicht nicht immer die Wahrheit, aber die Göttin ist sehr beliebt.«
Es tröstete Lana, von diesem schlichten und doch aufrichtig empfundenen Glauben zu hören. Nach den Erlebnissen im Jal’karu schien ihr das universelle Streben nach Moral unentbehrlicher denn je.
Bowbaqs Beispiel folgend, setzten sich auch die anderen auf die breiten Bänke, die rundum an den Wänden standen, und machten es sich bequem. Lana untersuchte Corenns Wunde und stellte erleichtert fest, dass sie gut verheilte. Léti lehnte sich zurück und versuchte, ein wenig Schlaf nachzuholen. Bowbaq sog den leckeren Bratenduft ein, der aus der Küche drang, und malte sich voller Vorfreude aus, was dort wohl in den Töpfen brodelte.
Der Hausherr, der wahrscheinlich sofort von der Ankunft der Fremden erfahren hatte, ließ sie nicht lange warten. Mit einem Mal stand ein beleibter, stämmiger
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