Die Magierin des Windes: Roman (German Edition)
mochte er nun Kaufmann oder Pirat sein -, tat jemals auch nur einen Schritt ohne sein Logbuch. Und Binns machte da keine Ausnahme. Jeden Abend gegen Sonnenuntergang schrieb er, während Falkin die Wachen einteilte, den Tagesbericht auf die Seiten des ledergebundenen Buches. Wann immer Fracht an Bord kam, ein Seemann sich verletzte oder ein neuer Kurs gesetzt wurde, wurde es im Logbuch niedergeschrieben. Sobald die Tinte trocken war, verstaute er das Buch regelmäßig unter der dünnen Matratze seines Bettes.
Einmal im Jahr, wenn auf den Inseln Hochsommer herrschte, fuhr die Vogelfrei nach Norden, um der Wirbelsturmsaison auszuweichen. Binns machte dann halt auf Eldraga, nicht nur, um all diejenigen Männer zu entlassen, die lieber nicht in seiner Mannschaft bleiben wollten, sondern auch, um das Logbuch für das kommende Jahr zu ersetzen. Das war eine Besorgung, die er ganz allein erledigte: Er ging, das salzverkrustete Buch unter den Arm geklemmt, davon, und kehrte ein paar Stunden später mit einem glänzenden, neuen zum Schiff zurück. Außerdem hatte er eine Handvoll frisch zugeschnittene Schreibfedern und ein halbes Dutzend Tintenfässer erworben. Falkin wusste nicht, wo er die alten Logbücher versteckte. Als sie ein einziges Mal danach gefragt hatte, hatte Binns ihr mit einem feierlichen Kopfschütteln geantwortet. »Mach dir keine Gedanken darum, Mädchen. Allein schon die Einzelheiten aus einem einzigen der alten Logbücher würden ausreichen, um uns alle aufzuhängen, also ist es das Beste, wenn du nicht weißt, wo ich sie gelagert habe.« Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihn daran zu erinnern, dass die Gerichte kein altes, ledergebundenes Buch benötigen würden, um eine Schar Piraten aufzuhängen. Sollte er doch seine Geheimnisse haben, wenn sie ihn glücklich machten.
»Als ich es zuletzt gesehen habe, hast du es in dein Bündel gestopft, und auch das sehe ich hier nirgendwo.« Sie wies mit dem Kopf nach oben. »Hast du es im Zimmer gelassen?«
»Da soll mir doch das Herz in Salzlake gepökelt werden! Das muss ich wohl getan haben«, seufzte er und blickte betrübt zur Decke, als könne er das Zimmer darüber sehen. »Den ganzen Weg die Treppe hoch, obwohl ich so voller Viktualien bin, dass ich kaum geradeaus gehen kann. Meine Knie knirschen schon, wenn ich nur daran denke hinaufzusteigen.«
Wenn Binns seine Energie darauf verwandt hätte, Schauspieler statt Pirat zu werden, hätte er mittlerweile am Königshof gespielt. Da konnte Falkin ebenso gut mitspielen. Sie verschränkte in flehendem Gestus die Hände vor der Brust. »Kapitän, ich bestehe nun darauf, dass Ihr mich, Eure demütige Dienerin, Euer Gepäck für Euch holen lasst.«
Unter dem kummervollen Gesichtsausdruck, den er zur Schau trug, sah sie den Anflug eines Grinsens aufblitzen. »Würdest du das tun, Mädchen? Du bist zu liebenswürdig. Sicher werden dich die Götter dafür belohnen.« Dramatisch ließ er sich zurück auf die Bank sinken, atmete keuchend aus und lehnte sich an den Tisch.
Falkin rollte die Augen, marschierte zur Treppe am Ende des Schankraums und lief die zwei Stufen auf einmal hinauf. Ihr Rücken hatte sich entspannt, seit sie aufgestanden war, und nun fühlte sie sich wieder mehr wie sie selbst. Oder vielleicht war es auch die Vorfreude darauf, wieder näher am Wasser zu sein, selbst wenn sie nur bis zur Amtsstube des Hafenmeisters gingen.
Binns Zimmer glich einem Schlachtfeld: Die Bettlaken waren aus ihrer Verankerung unter der Matratze gerissen; die dünne Decke lag zusammengeknüllt in einem Haufen auf dem Boden. Auf den ersten Blick konnte sie sein Bündel nicht sehen, deshalb ließ sie sich auf alle viere nieder, um unters Bett zu spähen. In der Tat, da war es. Er musste es wohl mit einem Tritt darunterbefördert haben, ohne es zu bemerken, als er ins Bett gestolpert war. Sie griff unters Bett und zog das Bündel hervor, setzte sich mit untergeschlagenen Beinen hin und nahm es auf den Schoß. Sie öffnete die verknoteten Kordeln, die es geschlossen hielten, und wühlte darin herum. Unter einer Hose zum Wechseln fand sie das Logbuch, genau da, wo es sein sollte. Sie hob es aus dem Bündel, verschnürte die Kordeln wieder, warf sich das Bündel über eine Schulter, klemmte sich das Buch unter den Arm und kehrte zur Treppe zurück.
In den wenigen Minuten, die sie fort gewesen war, schien sich eine Menschenmenge angesammelt zu haben. Die Sonnenstrahlen, die sie gesehen hatte, als sie zum ersten Mal die
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