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Die magische Laterne des Herrn Zinkeisen

Titel: Die magische Laterne des Herrn Zinkeisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willy Seidel
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ich nachdenken muß, nachdenken . . . Ich fühle, als ob mit uns allen doch etwas nicht ganz in Ordnung sei, ja, sozusagen radikal falsch . . .
     
Elftes Bild
Juan in der Sonne

Die kleine Sensation
    In einem Schub dienstuntauglicher deutscher Zivilisten wurde aus England – um die Mitte des Jahres 1915 – ein Knabe herüberbefördert, den niemand kannte. Man hatte ihn aufgegriffen und, da er deutsch verstand, kurzen Prozeß mit ihm gemacht.
    Der Krieg sprang nicht gerade zärtlich und gastfrei um mit landfremden Individuen. Durch die Schweiz kam er nach Köln, und hier benahm er sich, als sei er auf den Mond geraten. Oder vielleicht benahm man sich auf dem Monde so wie er, und er war aus Versehen herabgefallen mit seinen Mondsitten in eine aus den Fugen geratene sinnlose Welt.
    Wiewohl er ein Durchschnittsmaß von Verstand sein eigen nennen mochte, setzte er dennoch allen Fragen nach seiner Herkunft eine blanke Gedächtnislosigkeit entgegen. Es war, als habe er in einem Anfall von phänomenaler Zerstreutheit sein Leben irgendwo liegengelassen wie ein Buch und dann den Titel vergessen.
    Bekleidet war er mit einem dunkelblauen Sweater, wie ihn Fischer tragen, und darunter trug er einen gestreiften Schlafanzug, über dessen Hosen er noch ein zweites schlotterndes Paar von wolligen Beinkleidern gezogen hatte. Seine wundgelaufenen Füße steckten in klobigen Stiefeln. Sein Alter war beiläufig fünfzehn Jahre.
    Was sollte man nun mit ihm in Köln machen? – Man schob ihn an die Fürsorgezentrale Berlin ab. Er wurde ärztlich untersucht und gesund befunden. Aber das, was die Psychiater anging, das vollkommen schwarze Loch in seinem Hirn, der geistige Defekt, – das war nicht aufzuhellen. Er erschrak leicht, hatte aber bei sanfter Ansprache ein höfliches Lächeln. Sonst war sein Ausdruck grübelnd; seine dunkelbewimperten grünlichen Augen blickten starr. Die in Falten gezogene Stirnhaut zog die dichten Brauen zu finsterem Strich zusammen. – Während man ihn, etwas zu forsch vielleicht, examinierte, zischte die Luft aus seiner bedrängten Brust durch die schlohweißen Zähne und seine Augen verschleierten sich in dem – offenbar ehrlichen – Bemühen, die Wand zu durchdringen, die ihm sein Gestern verbaute.
    Für die Journalisten war er natürlich ein gefundener Stoff, und sie unterhielten das Publikum zwei Tage lang mit Debatten darüber, ob er ein Simulant sei oder ein echter Kollege Kaspar Hausers. Ein paar Leute kamen und besahen sich ihn, wiewohl die Kriegsnachrichten im allgemeinen breit alles Interesse überflammten. – Unter diesen Leuten, so ziemlich als letzter, meldete sich auch ein gewisser Herr Ziehlke , Seifenfabrikant seines Zeichens.
     
    Nicht, als ob Herrn Ziehlke unwiderstehlicher philanthropischer Drang auf die Szene getrieben hätte! – Wir müssen seine Tochter, Fräulein Magda Ziehlke, dafür verantwortlich machen.
    Als sie eines schönen Julimorgens aus der Schule kam – denn sie war ein schulpflichtiger Backfisch – durchstöberte sie die mit Plüschquasten geschmückte Etagere, wo ihr Vater seine Zeitungen aufhob, und fand bei dieser Gelegenheit das Bild des rätselhaften Knaben. Das Tempo, in dem Fräulein Ziehlke reifte, hielt seit einem Jahr Schritt mit der »großen Zeit« und so geschah es denn, daß sich nicht nur mütterlich-mitleidige, sondern auch ganz persönliche Empfindungen in ihr regten.
    Abgesehen von den Schilderungen, kam dies auf Rechnung seines Bildes. Zwar saß ihm der Raster wie ein graues Gitter vor den Zügen, jedoch ließ das Übermaß an Dunkel ahnen, daß man nicht allein der Druckerschwärze den südlichen Eindruck verdankte, sondern auch seinem reichgewellten dunklen Haar. Es überschattete ein schmales Gesicht mit schwarzen Brauen und ungemein ausdrucksvollen Augen. Magda dachte an die geschorenen Köpfe gewisser Gymnasiasten, die ihr den Hof machten, und fühlte sich geneigt, sie zu verabschieden. Ob der Fremdling wohl erlauben würde, daß man ihm durch dieses Haar fuhr? Er würde seine Falkennase krausen . . . Ach ja, verbitte dir das nur, dachte sie; ich tu's doch – und sie schloß und öffnete die schmalen Fäuste.
    Keiner von den entrückten Onkeln im Grammophon oder im Kino, über deren Anbetung ihre Mitschülerinnen ihre zopfumwickelten Köpfe verloren, interessierte sie. Ein solcher Onkel würde ja doch nur über sie lachen und ein Komplott gegen sie schmieden mit einer sehr viel älteren schlagfertigen Dame. Der Knabe aber würde kein

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