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Die magische Laterne des Herrn Zinkeisen

Titel: Die magische Laterne des Herrn Zinkeisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willy Seidel
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Persönlichkeit, Garten genannt. Und das weiß er, wenn er es auch nicht sagen kann: das Einzige, was wahrhaft geschieht, ist das unbewußte Wachstum, das im kleinsten geschieht.
     
    Wenn der kleine Albert im Gebüsche steckte, so glitt zuweilen die Silhouette seiner Mutter hinter dem Lichtwirrwarr der Blätter vorüber, langsam und mit der Feierlichkeit, wie sie Kranken eigentümlich ist – so langsam, daß ein leises Wort »Mutter« sie erreicht hätte, und wenn es auch nicht lauter geklungen hätte als eines Blattes Fall. Und nach einer sonnigen Pause, wenn der Zwölfuhrschlag der Petrikirche sein gespenstisches Klanggemurmel in der Luft verbreitet hatte – höhere und tiefere Wellen dröhnender Töne mit dem eifernden Lärm entfernterer Kapellenglocken verkuppelt –, wenn die kleine, sehnsüchtige Melodie, die stets bei Glockenschlägen im Ohr des kleinen Albert ihr Wesen trieb, wieder dahingesunken war wie ein mattes, selbstverlorenes Händetasten nach der Spur eines Glückes – dann ertönte ganz nah auf dem Kies der wuchtige Schritt des Vaters, der von der Klinik kam und der vor dem Mittagessen noch gewohnheitsmäßig nach seinen Terrarien und seinen Blumen sah.
    Er war ein großer, breiter Mann mit einem runden Kopf und gütigem Gesicht. Sein fahlblonder weicher Schnurrbart war schräg zu den Seiten der Lippen herabgestrichen. Seine blauen Augen blickten etwas müde, sich bei einer Beobachtung gewaltsam vergrößernd, mit einem stumpfen Glanz; an ihren Winkeln saßen freundliche Fältchen, doch unter ihnen deuteten sich Ringe an. Die Haut der Wangen war von einem gleichmäßigen Grau, die Lippen jedoch, die der Bart mit einem braunen Schimmer von Nikotin umgab, schienen lebensvoll rot. So ging der starke Mann vorbei ohne Stock, mit dröhnendem Schritt, in dunkelgrauem Anzug, der an den Hüften und in den Kniekehlen breite Falten warf; er ging vorbei, ohne Abstecher, neben dem Beet von Azaleen und Palmen auf das Terrarium zu. Der kleine Albert hörte das Glas der Öffnung klirren und wußte, daß die Chamäleons und die Leguane ihre Mehlwürmer bekamen.
    Nun schlängelte er sich selbst hervor, reichliche Grasflecken auf den Kniehosen, mit zerritzten Waden und erdfarbenen Fingern, mit sonnendumpfem Kopf und die fast weißen Wimpern zu bläulichen Ritzen geschlossen. Er sah selbst, von einer Hüftstellung der Beine in die andere fallend und mit halb offenen Lippen, wie Papa seine Tiere fütterte. Die Chamäleons setzten sich in Trab – für ihre Verhältnisse war es ein Rennen –; sie krochen auf dem Radius der Mehlwurmsphäre herbei, spinnenhaft und schneckenlangsam, die herausgestülpten Augen teleskopartig verlängert und mit bizarrem Schlenkern der kleinen Fußklammern. Die Leguane gingen, sie liefen nicht; sie wußten, daß sie Zeit hatten, und auf dem kurzen Weg warfen sie ihre zweigeteilten Zungenlappen lüstern und genießerhaft heraus. Alles war an ihnen gesträubt; ihre Zackenkämme erhoben sich wie ein Mann; sie waren die kleinen Zerrbilder ihrer riesenhaften Saurier-Ahnen, die unter Gebrüll ganze Wälder niederpflügten und deren Appetit nicht zu ermessen war – nun waren sie kleinwinzig, stumm und pfiffig geworden; doch im Grunde ihres Herzens dieselben geblieben, relativ, das war klar. Schön waren sie, bunt wie Fächer und voll Grazie; der sanfte Puls, der ihre Bäuche bewegte, blähte sie und ließ Reflexchen auf den Teppichmustern ihrer Schuppen erblitzen. So lagen sie wie kleine Kaimans übereinandergewürfelt und brachten ihre Tage hin.
    Papa konnte viertelstundenlang vor ihnen stehenbleiben; die Zigarre ging ihm gewöhnlich dabei aus. Manchmal nahm er den Kopf des kleinen Sohnes, der sich stets ohne ein Wort bei ihm einfand, halb in seine warme Hand, und Albert hielt das behutsam aus. Der Vater sprach sehr selten mit ihm; er schien stets schwer beschäftigt; er schnob oft durch die Nase, als ob er an Asthma leide, und redete, was er zu sagen hatte, mit einem schwierigen und mühsam anmutenden Baß. Da zu dieser Zeit eine drückende Hitze herrschte, erzeugte der leichte Karboldunst seiner Kleider, der stets an ihnen haftete, eine lähmende Atmosphäre, so eine Mittelstimmung von Trostlosigkeit und Schläfrigkeit, unter der irgend etwas schluchzte, ein aufgegebener schöner Plan oder eine zermalmte kleine Freude. Der Mann stand an dem schweren Rad der Arbeit, seine Hände griffen täglich in zuckendes Körpergewebe, suchten täglich, wie die eines gewissenhaften Ingenieurs, nach

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