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Die magische Laterne des Herrn Zinkeisen

Titel: Die magische Laterne des Herrn Zinkeisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willy Seidel
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hieraus schöpfte er sich seine kleine Sensation, die ihm die bekannte Beklemmung über dem Magen verschaffte wie bei der Lektüre von Cooper oder der kameradschaftlichen Annäherung an einen bestimmten Altersgenossen, den er verehrte.
     
    Die Hitze wuchs mit jedem Tag. Als Albert an einem Vormittag vor dem Torausgang zur Straße stand, vollzog sich ein Wunder. Die Straße lag fast menschenleer; in der Ferne abgeschlossen durch den roten Backsteinbau der herzoglichen Klinik. Die Straße, gleichgültig gepflastert, mit ihrer langweiligen Laternenreihe und ihren bestaubten kümmerlichen Schmuckbäumen war eine ganz gewöhnliche Straße, gut genug für den Schulweg und keineswegs für einen Spaziergang geeignet. Und just diese Straße wählte das Schicksal, machte irgendwo einen lautlosen Schritt, kam, gleichsam aus der Glut geboren, um eine Häuserecke als schwarzer Punkt und war da, wuchs, wurde zu einem Mann, der sich gebückt und schlürfend auf den kleinen Albert zubewegte.
    Es war ein alter Italiener mit graumeliertem, kautabakbeschmiertem Vollbart. Er trug ein schmutziges Hemd, geriffelte braune, schlotternde Samthosen (furchtbar geflickt) – und einen durchlöcherten Havelock aus Loden. Seine Augen waren grell und rehbraun. Albert interessierte sich sofort für ihn; er schlenderte ihm entgegen, schlug sich einmal an die linke Wade und blickte in die Luft. Als der Alte und der hellgekleidete Knabe sich einander auf wenige Meter genähert hatten, blieben beide stehen und lächelten. Der Alte zeigte eine Reihe gelber Zähne, hierauf ließ er sich, den grellen Blick immer auf den Knaben gerichtet, auf dem Steinfundament eines eisernen Gartenzaunes nieder. Er manipulierte etwas an seinem Umhang und förderte eine Meerkatze zutage, die offenbar in den letzten Zügen lag. Mit demselben grellen Lächeln blickte der schwachsinnige Greis auf das Tier, und auf einmal entdeckte Albert, daß der alte Mann müde und krank war, daß er sich vielleicht nicht deshalb gesetzt hatte, um zu plaudern, Geld zu bekommen und das Tier hüpfen zu lassen, sondern weil er sich unwohl fühlte und wohl ins Bett mußte. In der Tat blieb der Mann stumm und stöhnte nur ein bißchen. Dabei wischte er sich mit der rissigen, geschwärzten Skeletthand nachdenklich über die Stirn. Es ging ihm schlecht; er hatte ein langes, nutzloses Wanderleben hinter sich.
    Und als der kleine Albert nähertrat und seine Hand nach der Meerkatze ausstreckte, sagte der Alte plötzlich etwas höchst Eilfertiges mit rauhem Akzent und sank mit entsetztem Blick einfach um. Er lag da als schmutzige braune Masse, und der Affe, dem er sich auf das Kreuz gelagert hatte, begann zu brüllen wie ein gehetztes Schwein. Albert rannte ins Haus und holte Papa. Dieser kam, untersuchte den Mann und sagte: »Hier liegt ein Hitzschlag vor.« – Das »liegt vor« war eine Redensart, wie er sie vor seinen Assistenten gebrauchen mußte; und Albert hörte sie mit offenem Mund an. Er war sehr erschrocken, beinahe fassungslos, daß man einfach umfallen könne, daß Papa so sachlich blieb, daß die Angelegenheit somit erledigt war. Er sah zum ersten Male einen Toten; doch begriff er nicht, daß dies der Tod sei. Übrigens wurde ihm die Unklarheit nicht genommen; denn er wurde bald fortgeschickt, und der Mann kam, wiewohl er schon tot war, in die Klinik.
    Den Affen aber – da niemand Erbansprüche erhob – durfte Albert behalten.
    Der Affe war so schwach, ach, so hinfällig. daß es nicht nötig erschien, ihn zu verankern; sondern er wurde recht warm ins Gras gesetzt und bekam viele Bananen zu essen. Er war zweifellos das erbärmlichste Exemplar seiner Gattung; er war von langer Selbsterniedrigung moralisch zerrüttet, und dieser Zustand spiegelte sich auch in seinem Äußeren wider. So wie er war, halb kahl, mit seinem nackten Gesicht und seinen geschlossenen Augen, die Lippen noch zu träumerischem Nachkosten tastend vorgestreckt, karikierte er in der Haltung in grotesker Weise jenen embryonalen Zustand, in dem auch der Mensch sich ungern stören läßt. Zuweilen fiel er plötzlich, – in dunkler Erinnerung an erlittene Peinlichkeiten – auf die vorderen Hände mit zwitschernden Kehllauten, dick gefalteter Stirnpartie und die engstehenden Augen rund und grell auf den kleinen Albert gerichtet. So konnte er eine Viertelminute regungslos verweilen – dann löste sich der Krampf der Angriffsstellung, und eine neue Banane machte ihn weich und dankbar. Der Vater hatte Albert eine Leine

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