Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die magische Laterne des Herrn Zinkeisen

Titel: Die magische Laterne des Herrn Zinkeisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willy Seidel
Vom Netzwerk:
zerquälte sich den Kopf. Und da er sich endlich tränenlos aus dem Schatten hervortastete, zog ihn sein ganzes Herz zur Mutter. Sie sollte richten, sie hatte die Befugnis, ihr, und nicht – dem, der ihn schlug, vertraute er sich an. Sie mußte es ja wissen, warum man ihn mißhandelt hatte, sie würde ihn trösten können.
    Er ging gebückt hinauf. Das Haus war seltsam still. Und nachdem er leise die Tür des Krankenzimmers geöffnet hatte, sah er mit einem kalten, entsetzten Erstaunen ein leeres, zerwühltes Bett. Er rief nach der dicken Krankenschwester: – eine Stille antwortete ihm. Eine Stille, die ihm den Grund unter den Füßen weichen machte. Ein leichter Wind flüsterte ins Zimmer und bewegte die Vorhänge und das Linnen des Bettes leise hin und her – –: ein kahles Nichts erfüllte den Raum, ein Nichts, das ihm weiß entgegengrinste und das sich behauptete wie ein taubes Hirn unter Kanonenschüssen.
    Und gleichzeitig war ihm, als geschehe ein Unglück. Er hörte, wie über Wolken, das Klanggemurmel der Petrikirche. Und dahinter, furchtbar fern, seinen Namen rufen wie in Angst. Ganz leise zirpend kamen die Silben auf den Sekunden, die das Jetzt ihm zuspülte, angeschaukelt, die zwei Silben seines Namens, von einer bekannten Stimme gerufen, die sich in Angst brach – – und dann kamen Pausen, qualvoller als alles, was er je erlauscht, Pausen, die wie über die Grenzscheide einer nahegelagerten, verdeckten Welt, die unter dem Lichte brütete, herüberwuchsen – – – und der kleine Albert stand vor der Uhr und wußte mit einem Male, es ist Zeit, Mama ist in Not, ich muß eilen, eilen, eilen . . .
     
    Totenblaß taumelte er die Treppe hinunter und rannte auf die Straße. Er rannte, wie er nie gerannt, es war ein gleichmäßiges Vorwärtsfallen seiner todmatten schlanken Beine . . . Hinter ihm lief ein windfüßiges Etwas, das ihn zwischen die Schultern stieß. Er lief schnurstracks auf den roten Backsteinbau der Klinik zu. Passanten sahen ihm kopfschüttelnd nach, gleichgültige Bruchstücke von Gesprächen, ein entfernter Alarm der Feuerwehr schwirrten in sein Ohr. Eine Sonate von Mozart klang hinter einem offenen Fenster; zwei, drei holde Akkorde, mit dem lieblichsten Motiv verkettet, das es auf der Welt gab, vibrierten hinter dem atemlosen Knaben her und riefen ein kurzes Aufschluchzen in ihm hervor.
    Endlich hatte er das Tor der Klinik erreicht und stahl sich hinein. Mit flatterndem Herzen und verwildertem Haar blieb er im Gang stehen. Irgendwo plätscherte ein Wasserhahn, plötzlich wurde er abgedreht. Auf dem grünen Linoleumläufer, der sich schnurgerade in der Mitte des Ganges vor sich hinzog, lagen gleißende Lichtquadrate in einem Nebel von Sonnenstäubchen. Hinter den weißen, von innen gepolsterten Türen regten sich zuweilen murmelnde Stimmen. Der kleine Albert ging lautlos weiter. Er musterte die Türen, alle waren sich gleich. Er irrte einige Zeit ratlos; dann sah er eine Milchglasscheibe und eine Klinke, die goldgelb war und in der sich die Sonne in einem wabernden Karfunkelglanz sammelte. Wie behext starrte Albert auf die Klinke; seine Hand erhob sich, bebte, magisch angezogen; er tastete an das warme Metall, er drückte es nieder; und die Tür ging geräuschlos zur Hälfte auf.
    Ein betäubender Chloroformdunst schlug ihm entgegen. In einiger Entfernung sah er drei weiße Gestalten, die sich über etwas bückten; die eine war offenbar der Vater. Mit erweiterten Augen starrte er die Gruppe an, die sich, tiefbeschäftigt, nicht um ihn zu kümmern schien. Jetzt trat der eine Mantel zur Seite; ein behaarter Arm mit einem fleischfarbenen Gummihandschuh hing an seiner Seite herab. Und zugleich sah Albert das Gesicht der Mutter, halb in einem Wattebausch vergraben, wie in friedlichem, lächelndem Schlaf; nur schien ihm eine seltsame Reglosigkeit darüber zu liegen. Das Gesicht sah er deutlich genug, obwohl die weißen Mäntel es nur für eine Sekunde freigaben; dann war es wie von den Falten verschluckt.
    Und plötzlich vernahm er ein kurzes Ächzen; sah eine Brille funkeln, die sich beugte, sah zwei breite Schultern zucken und gleichsam eine Stufe tiefer sinken. Die Mäntel sprachen miteinander, sie sprachen leise und hastig. Ein Gegenstand fiel in ein Becken. Und plötzlich trat wieder einer zurück, und der kleine Albert sah eine riesige Blutlache , eine schwarze Purpurmasse, in der Pinzetten flimmerten . . . er tat einen schwachen Schrei, der einen Tumult in der Gruppe

Weitere Kostenlose Bücher