Die magische Laterne des Herrn Zinkeisen
nicht reden. Er dachte also: »Ich fühle mich etwas schwindlig. Es wird gleich vorübergehen«, und er war selbst erstaunt darüber, daß die Gedanken laut aus seinem Munde traten. Er hörte sich selbst reden; aber es war, als rede ein Zweiter.
Zugleich bemerkte er, daß die Eltern mit seltsamer Hast sich gebärdeten. Die Mutter nippte unablässig, wie eine Bachstelze aus einem Quell, von ihrem Glas Tee, und der Vater gebrauchte sein Besteck mit einer taschenspielerhaften Geschwindigkeit.
Sein umherirrender Blick glitt nach der Uhr, die in der Ecke des Zimmers hing. Da gewahrte er mit ankriechendem Entsetzen, daß der Minutenzeiger sich vor seinen Augen über das Zifferblatt bewegte.
Er stand auf – es dauerte eine Ewigkeit, bis er den Tisch umschritt – und tappte den Gang hinunter in seine Kammer. Er hörte noch hastige Geräusche hinter sich: ein mit großer Behendigkeit und dialektischer Schärfe geführtes Zwiegespräch, das bei der sonstigen gemächlichen Unterhaltung seiner Eltern äußerst auffallend war. Dann hörte er, wie sie ihm folgten, und spürte, als er wieder auf dem Boden lag, wie eine kühle, lindernde Hand, die ihn ganz zu umhüllen schien, sich auf ihn senkte. Bald darauf umfing ein feuchtes Tuch seine fiebernde Stirn, und er verfiel in einen traumlosen Schlaf, der ihn wie ein Schacht verschluckte. – – Dies war das zweitemal, daß ihm das Unerhörte nachstellte.
Als er wieder erwachte, saß der Doktor, der die Familie schon seit langen Jahren betreute, an seinem Bett.
»Mein junger Freund,« bemerkte er mit fetter Stimme, als Harald die Augen aufschlug und ihn verständnislos ansah, »wir haben ein wenig Nervenfieber gehabt und sind ein paar Tage lang nicht ganz bei uns gewesen. Sagen Sie: hat Ihnen vielleicht kürzlich etwas plötzliche Furcht eingejagt? – Sprechen Sie sich aus, das ist das beste. Es liegt gar kein Grund vor, mit achtzehn Jahren Nervenfieber zu haben.«
»Danke, Doktor. Ich wüßte weiter nichts, was passiert sein sollte – außer daß ich manchmal ein wenig verrückt bin.«
Der Arzt hob beschwörend die fette, weiße, gepflegte Hand. »Verrückt! – Ich bitte Sie! Ein kleiner Sonnenstich; und was weiter!! Sie sind normal, wie jeder gesunde Junge! Vielleicht haben Sie sich überarbeitet . . . Ich habe schon mit dem Hauslehrer gesprochen: der hat mir recht gegeben in meiner Mutmaßung, daß er Sie ein wenig mit Lektionen überlastet habe. Sie seien ihm auch verträumt vorgekommen; konzentrationsunfähig. Nun, das wird sich alles geben! – Jetzt tun wir einmal gar nichts, wie? – Und legen uns ein paar Wochen ganz auf die faule Haut. Viel baden! Viel herumlaufen! – das ist das Wahre. Fieber haben Sie auch keins mehr, und wenn Sie mir etwas anvertrauen wollen, so bin ich stets zur Hand; das wissen Sie!«
Harald nickte und sah etwas zweifelnd auf den pompösen, selbstgefälligen Mann, der gemächlich aufstand, ihm herzlich die Hand drückte und sich würdevoll entfernte. Er hatte das Gefühl, daß jener die Güte selbst sei; aber daß trotzdem etwas Unausgesprochenes zwischen ihnen bestehen bleibe, so sehr er sich auch Mühe gab, seinen Zustand auf eine Formel zu bringen. Vor allem, wie wollte er ihm diese peinigende innere Unrast erklären, dieses Gefühl von etwas Unerfülltem, was ihn wie stete Mahnung quälte. Er wußte, wußte scharf und genau: »Ich habe etwas zu tun. Ich habe etwas gutzumachen! Eine Mission zu erfüllen! Die ersten Anzeichen meiner Berufung, ja, die habe ich damals im Walde erlebt! . . . Und was es eigentlich ist, das muß sich herausstellen, und wenn ich bei dem Versuche, es zu enträtseln, mein Leben opfern müßte!«
Solche Gedanken waren unendlich reifer als er selbst. Es war, als dächte sie ein Zweiter. So wie kürzlich während des Abendessens ein Zweiter aus ihm gesprochen, so erwählte sich diese Potenz, die er nicht kannte, seines Hirnes als eines Mittels, um sich zu äußern. Er fühlte sich unter der Kontrolle eines Willens, dem er nicht gewachsen war, der irgendwo in der Nähe, vielleicht in diesem Städtchen, waltete, und er beschloß, sich ihm ganz zu unterwerfen. War das nicht die einzige Möglichkeit, ihm die Maske vom Gesicht zu reißen . . . ihn ins Tageslicht zu zerren und seine eigene Persönlichkeit bewußt gegen das Fremde auszuspielen?
Er stand auf, als sei er nie erkrankt; kleidete sich gemächlich an. Eine Art tiefen Friedens war über ihn gekommen, seit er den Entschluß gefaßt. Die Angst war
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