Die magische Laterne des Herrn Zinkeisen
schmalen, sehr langen Lippen zu einem Lächeln verzogen, unter der steifen Hutkrempe hervor anblinzelte, war ohne Zweifel ein Mongole. Haralds Empfindung glich einem Schreck, als sei er plötzlich mitten in einem biederen deutschen Walde auf ein Gürteltier oder sonst ein exotisches Wesen gestoßen, so eigenartig wirkte die Figur in diesem Landschaftsrahmen, so plötzlich und unvermittelt, wie vom Himmel gefallen, stand sie da.
Der Mann nahm jetzt seinen Hut ab und entblößte dabei üppiges, steilstehendes, glanzlos schwarzes Haar. Dieser Reichtum an beschnittenem Haar überzeugte den Jungen, daß er ein Chinese sein müsse, ebenso wie ihm der gänzliche Mangel an Augenbrauen und Wimpern und die tief quittengelbe Farbe des faltenlosen, flachen Gesichts diesen Gedanken nahelegte. Er stammelte:
»Ich danke sehr, es geht mir ganz gut; ich habe nur soeben einen kleinen Schwindel verspürt. Möglicherweise bin ich zu lange in der Sonne umhergelaufen.«
Der Chinese fuhr fort zu lächeln und den Schimmer kalkweißer Zähne hinter den blassen Lippen spielen zu lassen. Seine Zunge bewegte sich ganz vorn, während er sprach, und die »R« fielen daher fast alle wie »L« ins Ohr.
»Ich nehme einen kleinen Ferienaufenthalt«, meinte er schmeichelnd und blickte sinnend in Haralds Gesicht. »Sie haben es gut hier. – Darf ich Sie ein Stückchen begleiten?«
»O bitte sehr«, sagte Harald noch etwas verwirrt. »Sind Sie vorübergehend in Deutschland?«
»Ich arbeite in Marburg«, sprach der Herr. »Ich heiße Sze. Wie lange meines Bleibens hier ist, weiß ich noch nicht. Ich bin schwierigen Sachen auf der Spur. Chemie, wissen Sie, hauptsächlich Geologie. Ich schnüffele, wo ich bin, den Gesteinsarten nach; da entdeckt man allerlei!«
Harald begann Interesse zu nehmen; denn man hat nicht alle Tage Gelegenheit, sich mit einem Chinesen in fließendem Deutsch zu unterhalten. Er blickte scheu auf seinen Begleiter und sah auf einmal mit einem gewissen Grauen, daß dessen Augen nie an einem festen Punkte verweilten, sondern daß die Pupillen in bläulichem Email wie zwei schwarze Mäuse zwischen den wimperlosen Lidern hin und her huschten. – Wenn er mich doch ansehen würde, dachte Harald mit einer fast quälenden Begierde danach, den Blick des Mannes festzuhalten. Als ob dieser seine Gedanken erraten habe, standen die Pupillen plötzlich still; die gewölbten, wie geschwollen anmutenden oberen Lider hoben sich um einen Bruchteil in die Höhe, und die dunkle Iris, die sich dabei etwas zu erweitern schien, stand unbeweglich. so daß es war, als blicke man in zwei Löcher hinein.
Eine Lähmung schien von diesem schwarzglühenden Blick auszustrahlen, eine Knebelung des Willens, eine bis zum äußersten konzentrierte elektrisch-ausbrechende Energie. Und mit einem Male wußte Harald, daß dies der einzige Mann sein könne, dem ein Verständnis für seine rätselhaften Gemütsabenteuer zuzutrauen war. Ein unwiderstehliches Bedürfnis überkam ihn, sich dem Schutz dieser allwissenden, klugen Augen anzuvertrauen.
Was man ihm sagt, das wird in ein Grab versenkt sein, dachte er und sah zu dem maskenhaften, großen Gesicht empor, das stereotyp weiterlächelte. Er allein ist vielleicht fähig, mich zu verstehen. – Woher ihm diese Gewißheit kam, wußte er nicht, nur glaubte er, daß zwischen den Seltsamkeiten der Vorgänge, so noch des allerletzten, und dem Hirn des Asiaten irgendwelche Verwandtschaft bestehe.
»Haben Sie«, sagte er plötzlich aufgeregt und sich überstürzend, »vorhin den Wagen dort auf der Allee bemerkt? Mir war, als gingen die Pferde durch . . . Ich muß wohl geträumt gehabt haben, und außerdem kommt es mir so seltsam vor, daß es offenbar schon Mittag ist. Sagen Sie mir,« – und er packte den Mann mit hastigem Griff am Ärmel – » wo war ich zwischen sechs und zwölfe?? –«
Es war, als ob das Lächeln aus dem Gesicht vor ihm langsam ausgetilgt würde. Die Mundwinkel senkten sich, die Lippen schlossen sich zu farblosem Strich. Dann sagte Herr Sze leise und erstaunt:
»Erklären Sie sich, ich verstehe nicht.«
»Und«, rief Harald aufgeregt, »wenn Sie nicht geträumt haben, dann müssen Sie doch gesehen haben . . .«
»Warten Sie, warten Sie«, sagte Herr Sze. »Dies ist neu, ich muß nachdenken.«
Er schritt etwas ab vom Wege, immer mit denselben stelzenden Schritten, als ob er etwas Unsichtbares dabei zu raffen habe, und hockte sich, die Beine in Kreuzform geschlagen, mitten in das
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