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Die magische Laterne des Herrn Zinkeisen

Titel: Die magische Laterne des Herrn Zinkeisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willy Seidel
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Raubvogels entfernt verwandt schien. Doch die Güte seiner alten Augen machte gut, was die Nase verdarb. »Du hast getrunken, gestehe es, Sohn! Wenn du es gestehst, bin ich der letzte . . .«
    »Aber ich schwöre dir, Vater, es war so!«
    »Nun . . .«, machte der Freiherr abwehrend, lachte kurz und rasselnd und vertiefte sich in seine Zeitung.
    Die Mutter mischte sich ins Gespräch. Sie sei der Ansicht, daß Harald vollkommen nüchtern gewesen sei. Der arme Junge sei nur sehr erschöpft gewesen und habe wie ein Toter geschlafen. »Man muß sich nie in die Sonne legen«, meinte sie besorgt. »In welcher Gegend hast du denn dich herumgetrieben?«
    »Ach, dort hinten bei dem alten Hünengrab, oder wie man es nennt.«
    Hier, wie mit einem Zauberschlag, sank die Zeitung aus der zitternden, alten Hand des Freiherrn. Die Mutter setzte die Tasse klirrend wieder hin, und beide starrten ihn an, als habe ein Blitz vor ihnen eingeschlagen.
    »Das Hünengrab?« sagte der Freiherr endlich rasselnd, wie aus gedrängter Brust heraus. Er wechselte einen Blick des Einverständnisses mit der Mutter. Beide beherrschten sich im selben Moment, doch Harald hatte die erschreckten Gebärden bemerkt.
    »Es wird so allerhand dummer Aberglaube darüber verzapft, nicht wahr?« meinte er und begann mit gesundem Appetit zu frühstücken.
    »Ganz richtig,« bekräftigten beide Eltern im Chorus, »ganz richtig. Dummer Aberglaube.«
     
    Die folgenden Tage verrannen, und an Haralds Leben änderte sich nichts. Sein Hauslehrer, ein schwadronierender alter Student, der sich in der Nähe von Adeligen am besten gefiel, nahm ihn oft zu sehr in Anspruch, als daß er viel über das Erlebnis hätte nachdenken können. Doch wenn seine Hausarbeiten fertig waren und er sich selbst überlassen war, befiel ihn zuweilen die Erinnerung, so, wie wenn man sich einer Gefahr erinnert, der man knapp entronnen. Das Tückische an dieser Erinnerung war, daß die Gefahr sich nicht mehr definieren ließ und daß ihr Nachklang darum unerlöst im Hirne schmerzte. Im allgemeinen schüttelte er mit einiger Willensanstrengung das Gedächtnis daran ab und las viel in Büchern, aus denen heraus die abgeklärte Vernunft eines philosophischen Betrachters unserer Lebensumstände ihn beruhigte. Wiewohl er noch sehr jung war, griff sein unreifer Geist derartige Gedankengänge instinktiv auf, wie wenn man nach einem Rettungsgürtel faßt, und was ihm daran unverstanden blieb, schien trotzdem faßbar: irdische Materie, an die man sich halten konnte. Zudem trieb er sich viel in Gesellschaft Gleichaltriger umher, was ihn ablenkte. Sein Benehmen schien ihm selbst durchaus natürlich und gewohnheitsmäßig, doch fühlte er zuweilen mit eigentümlicher Befremdung, daß man hie und da begann, ihm erstaunte Mienen oder ausweichende Antworten entgegenzusetzen.
    »Du denkst zuviel, Sohn«, knarrte der Freiherr des öfteren. »Sobald die Schonzeit vorüber ist, kommst du mit mir auf die Jagd.«
    Doch diese Aussicht, anstatt ihn zu beruhigen, versetzte ihn in noch größere Nachdenklichkeit. Der Gedanke an Jagd bekam plötzlich etwas Fragwürdiges, ja Anrüchiges. Das hatte er noch nie vorher empfunden.
    Etwa drei Wochen waren verflossen, da geschah es wieder, und zwar am hellen Tage, daß jenes Gefühl der Entrücktheit ihn wieder befiel, als seien alle Beziehungen zum Irdischen plötzlich gelockert.
    Es war beim Abendessen. Sein Vater rückte auf einmal hinter einen mächtig ausladenden Tisch, hinter eine Wüste von Leinwand und saß klein und entfernt am Ende des erweiterten Zimmers. Tapete, Möbel und was es sonst gab, waren dieselben; nur die Eltern verständigten sich über Entfernungen hinüber, die Gebärdensprache notwendig machten. Sie schienen sich zu verstehen, auch wenn ihr Gespräch nur einem Flüstern glich.
    Harald faßte sich an den Kopf. Wieder ging jene schleichende Verschiebung in seinem Hirn vor. Seine Hand tauchte in seltsame Tiefen, um zum Teller oder zum Wasserglase zu gelangen. Er gab das Essen auf und saß starr mit zähneknirschender Bemühung, sich selbst über diese Empfindung mit Gewalt hinwegzusetzen. Sein Vater, klein und in allen Umrissen äußerst deutlich von der Lampe bestrahlt, rief ihm etwas zu, was er genau verstand, ohne daß er Worte hörte.
    »Ist dir nicht ganz wohl, Sohn? Was schneidest du da für ein Gesicht? Schmeckt dir das Essen nicht?«
    Auch von der Mutter kamen ähnliche Stimmwellen herüber; aber er saß wie paralysiert und konnte nur denken,

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