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Die magische Laterne des Herrn Zinkeisen

Titel: Die magische Laterne des Herrn Zinkeisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willy Seidel
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Zeit gefunden, über sich nachzugrübeln.
    Doch jetzt, bei türkischem Kaffee, drängte sich wieder eine mühsam zurückgehaltene Vorstellungswelt herzu, deren er sich kaum erwehren konnte: so als ständen vertriebene Gedanken, unendlich irdisch und zwingend, wie Bettler vor einer verschlossenen Tür und pochten und schrien unablässig. Doch das Tor seines Gedächtnisses war so fest verrammelt, daß ihre Klage nur wie leise Seufzer hindurchzudringen vermochte.
    Ja, es seufzte in ihm, und er wußte nicht, woher diese tiefe Traurigkeit stammte; denn alles, woran seine Gedanken rührten, zog sich blitzschnell zurück gleich Schneckenfühlern, die er betastete.
    Etwas war verschollen, etwas Unwiderbringliches, unendlich Wichtiges.
    Er krauste die Stirn; seine Augen verloren schier ihren Glanz; mit einer entsetzten Bewegung faßte er auf einmal den Doktor nach dem Arm und fragte keuchend: »Mir fehlt etwas! Mir fehlt etwas! Seit wann bin ich hier? Und was war vorher?«
    Der Chinese wandte ihm ein erstauntes, leeres Gesicht zu.
    » Vorher? Sind wir nicht immer zusammengewesen, seit du denken kannst? Haben wir uns denn je getrennt? Bist du nicht mein kleiner Freund? Habe ich dich nicht großgezogen hier? Hast du je etwas anderes gekannt als mich, als dieses Haus, als die Halle da drüben?«
    Harald schüttelte langsam den Kopf, aber es fiel ihm keine Antwort ein.
    »Verzeihen Sie, » sagte er stockend. »Ja; Sie müssen recht haben . . . Ich kann mir nichts anderes vorstellen.«
    »Es steht dir frei, dir Beliebiges vorzustellen«, meinte Dr. Sze achselzuckend. »Du änderst darum nichts an Tatsachen. Im übrigen haben wir es ja so gut, warum sollen wir uns nach etwas anderem sehnen?«
    Sie rauchten schweigend weiter.
    Wiederum fühlte Harald plötzlich die großen Hände gleich welken Blättern auf seiner Stirn, und als diese kühle Berührung ihn verließ und er wieder aufsah, waren auch die klagenden Bettler vor dem Tor, seine Gedanken an früher gewichen und alles in seinem Hirn erloschen – alles bis auf dies eine Gefühl, daß er sich wohlfühlte und es sein Leben lang nicht besser haben wollte.
     
    So verrann die Zeit in ewig-gleichmäßiger Arbeit.
    Was Haralds Mühe endlich herausgeschält hatte, und was dort in voller Größe thronte, war ein hockender, plumper Götze.
    Trat man nahe an ihn heran, so löste er sich in seine Bestandteile auf, denn das Auge konnte seine Ausmaße nicht zusammenfassen. Man konnte auf ihm herumklettern, auf diesem Meteoriten aus kompaktem Nickeleisen, diesem Spiel der Natur, desgleichen man noch nie zuvor erblickt.
    Sah man aber von unten herauf, so saß dort, auf eine solide Grundlage von Granit gebettet, ein schauervolles Monstrum. Es gehörte wenig Phantasie dazu, um den Block umzugestalten, um Arme und im Hocken gekreuzte Knie zu erschaffen. Die Arme waren formlos und in stumpfen Bogen nach innen gedreht. Es wuchsen abscheuliche Tatzen aus ihnen mit Dutzenden gekrümmter Krallen, die dicht unterhalb des Maules wie erstarrte Schaufeln hingen, so als raffe der Götze unablässig Fraß an sich, ohne doch je befriedigt zu sein.
    Sein Ausdruck veränderte sich im Spiel der Beleuchtung kaum. Es war dieses stetige aufreizende, klaffende Grinsen. Nur zuweilen verirrte sich ein schwacher Widerschein von Metall in die Höhlen seiner Augen und schuf gespenstisches Leben darin, als rolle er träge Pupillen.
    »Kein angenehmer Hausgenosse, wie?« sagte Dr. Sze, mit schwachem Versuch zu scherzen.
    Er hielt sich jetzt des öfteren vergraben in Gemächern, die Harald noch nie betreten.
     
    Da überraschte der Knabe den Doktor, wie dieser fledermausartig über einer auf dem Boden ausgespannten Rolle brüchigen Pergamentes hockte, die er sich am anderen Ende des Zimmers von einer elfenbeinernen Spindel gelöst hatte, und die von verblaßten, plumpen Schriftzeichen strotzte.
    Es war dickes Pergament und glänzte ölig. Jedesmal, wenn der Doktor auf den Knien eine Zeile weiter hinunterglitt, knirschte es ledern.
    Seine langen, gelben Nägel tasteten die Zeichen ab; seine Augen waren zu ganz dünnen Ritzen geschlossen. Harald, der lautlos in die Tür trat und ihn betrachtete, erkannte, daß der Schriftenkundige sich in einer Art von Trance befand, denn er wiegte den Kopf rhythmisch, und seine Stirn war gekraust.
    Das war nicht der Dr. Sze mehr, der ihn damals empfangen, auch nicht der, der das Werk der Enthüllung geleitet. Dies hier war ein Greis von so uraltem Aussehen, daß es den Knaben

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