Die Magistra
kurfürstlichen Kanzlei davon berichtete. Aber wenn ein einfacher Mensch darauf zu hoffen wagt, daß sich für ihn etwas ändert, findet er sich schneller am Pranger oder auf dem Brandgerüst wieder, als er braucht, um ein Sanctus Dominus Deus zu singen.«
Jenseits des Feldes waren plötzlich Stimmen zu hören. Helle Stimmen, die sich vor Zorn und Eifer überschlugen und denen in Abständen ein Geheul wie von einem in die Enge getriebenen Tier folgte. Philippa und Maria liefen auf den Weg zurück, in Richtung des Angers und zwängten sich durch das Gehölz.
Es waren drei oder vier halbwüchsige Knaben, dieselben, welche Philippa an den Fangnetzen am Graben hinter dem Stadttor gesehen hatte. Ihre Netze hatten sie weggeworfen und gegen Stöcke ersetzt, mit denen sie eine ältliche, hagere Frau vor sich hertrieben.
Die Frau trug ein sackartiges Kleid, dessen besticktes Oberteil zerrissen sein mußte, denn Philippa erkannte ein nur halb geschnürtes Mieder. Die weite Haube der Frau mochte zu irgendeiner Zeit einmal weiß gewesen sein. Nun aber war sie grau, und ihre gestärkten Seiten wirkten wie ein Paar überdimensionale Ohren. Kreischend versuchte die hagere Gestalt ihren Verfolgern zu entkommen. Sie schüttelte die Fäuste gegen sie, doch der Strom derber Verwünschungen, welcher über ihr Haupt erging, schwoll zur springenden Flut. Außerdem hatten die Kinder begonnen, sie mit Lehmklumpen zu bewerfen.
Philippa umklammerte ihren Stecken so fest, daß sich ihre Nägel schmerzhaft in die Handfläche gruben. Vorsichtig schob sie das dürre Strauchwerk auseinander.
»Herrin, geht nicht hinüber«, wisperte Maria Lepper, getraute sich aber nicht, Philippa am Ärmel festzuhalten. »Die Alte mit dem Pferdegesicht … das ist die Barle!«
Verständnislos zuckte Philippa die Achseln, verzichtete jedoch darauf, die Magd weiter zu befragen. Mit klopfendem Herzen beobachtete sie, wie die hagere Frau mit dem Fuß einknickte und zu Boden stürzte. Wildes Triumphgeschrei folgte.
Philippa zögerte nicht lange. Sie gab ihre Deckung auf und stolperte über den schmalen Pfad, dem Anger entgegen. Als die vier Knaben sie kommen sahen, hielten sie zögernd inne und scharten sich um die auf der Erde liegende, wimmernde Gestalt.
»Ich wußte doch, daß ich recht gesehen habe«, rief Philippa und stürzte sich wütend auf einen der Knaben. Seine Kameraden wichen eingeschüchtert zurück. »Johannes Luther, wie kannst du es wagen, eine Frau mit Steinen zu bewerfen!« Aufgebracht warf sie dem Jungen ihren Stecken vor die Füße und schüttelte seine schmalen Schultern, bis sie in den braunen Augen Tränen der Scham glitzern sah. Maria Lepper trat an ihre Seite und blickte argwöhnisch von der gekrümmten Frau am Boden zu Philippa. Sie dachte überhaupt nicht daran, der Alten aufzuhelfen. Ihr Gesichtsausdruck ließ vielmehr darauf schließen, daß sie Philippas Erregung ebensowenig verstehen konnte wie Johannes Luther und seine Freunde.
»Ihr alle«, Philippa ließ von Johannes ab und wandte sich den übrigen Knaben zu, »ihr seid doch Zöglinge der Lateinschule. Aus sogenannten ehrbaren Familien, nicht wahr? Wissen eure Väter und Magister, was ihr vor den Toren treibt, sobald man euch den Unterricht oder das Chorsingen erläßt?«
Johannes Luther fing leise zu schluchzen an. »Ich … das heißt, wir dachten, wir könnten etwas tun, damit die Barle endlich aus Wittenberg verschwindet.«
»Das wird ja immer schöner!« Philippa stemmte die Hände in die Hüften, aber ihr Ton wurde eine Spur sanfter. »Darf man auch fragen, aus welchem Grund?«
Die vier Jungen blickten sich verschämt an. Niemand wollte so richtig mit der Sprache heraus, doch schließlich erklärte Johannes, daß die Barle von nicht wenigen Bürgern der Stadt verdächtigt wurde, schwarze Magie zu praktizieren. Sie stehe in dem Ruf, giftige Tränke zu mischen und kleine Kinder zu entführen.
»Lügen, nichts als gemeine Lügen«, erklang die schrille Stimme der Frau. Sie lag noch immer auf dem Boden, eine Hand bis zum Knöchel in den Erdboden gegraben, mit der anderen zum Schutz die hohe Stirn abschirmend, gerade so, als erwartete sie einen weiteren Angriff der Kinder. »Wenn ich's könnte, würde ich euch verfluchten Rotznasen Schweineschwänze und Rattenhufe an den Leib wünschen. Aber ich bin leider nur eine einfache Wehmutter …« Sie sprach nicht weiter. Statt dessen hustete und schnaubte sie zum Steinerweichen.
»Johannes, du gehst jetzt sofort nach
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