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Die Magistra

Die Magistra

Titel: Die Magistra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guido Dieckmann
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Erwiderung lief er zurück zu seinem Platz und ließ sich neben Katharina nieder. Der Schmerz, der durch seinen Magen schlich, schwächte ihn, und die Blicke der Menschen, die er noch vor einer Stunde für seine engsten Freunde und Mitstreiter gehalten hatte, stürzten ihn in ein Gefühl von Hilflosigkeit, das langsam in Wut und Enttäuschung überging und ihn um so mehr verletzte, da es jegliche Form von Vernunft ausschloß. Er dachte an die Zeit zurück, als theologische Fragen nicht auf Reichstagen und Schlachtfeldern erörtert, sondern den Universitäten zur Diskussion vorgelegt worden waren. Damals hatte er sich für das Ideal von Menschen wie Bernardi eingesetzt: die Freiheit, forschen und lehren zu dürfen, wie es das Gewissen forderte. Selbst die Juden hatte er verteidigt, niemand durfte abstreiten, daß er sie in seinen Schriften oft eingeladen hatte, ihm zu folgen. Er verstand ja, daß sie der römischen Kirche niemals vertraut hatten, aber wenn sie nun auch ihn herausforderten? Seine gereinigte Lehre in Frage stellten? Männer wie Bernardi auf ihre Seite zogen und darüber der Waffenbund der protestantischen Fürsten zerbrach?
    »Wenn es für den Eidgrafen Verrat bedeutet, sich mit den Büchern der Hebräer zu beschäftigen, wäre der heilige Paulus dann nicht gleichfalls ein Verräter gewesen?« erklang plötzlich eine helle Frauenstimme durch den Saal.
    Ein Wald von Augen richtete sich voller Empörung auf die Person, die es gewagt hatte, sich in einen Disput der Männer einzumischen. Der Eidgraf mußte ähnlich empfinden; auch er ließ seine Augen prüfend über die Reihen gleiten. Bei Philippa verharrte er fragend.
    »Vergebt dem Mädchen seine Kühnheit, Herr!« Katharina eilte durch die Reihen und zog ihre Nichte am Handgelenk mit sich zum Podest. »Darf ich Euer Gnaden die Tochter meines verstorbenen Bruders vorstellen?« Philippa traf ein derber Stoß gegen die Schulter, der sie beinahe taumeln ließ. Sie konnte selbst kaum glauben, was sie getan hatte.
    »Eine von Bora also«, sagte Wolfger. Seine Stimme klang aus der Nähe weniger melodisch, sondern eher schrill wie das Tamburin eines Spielmannes. »Euer Landesfürst ist Georg von Sachsen?«
    Philippa nickte. Sie fragte sich beklommen, was der Eidgraf im Schilde führte, und verspürte plötzlich den sehnsüchtigen Wunsch, sich nach Bernardis schwarzen Sternenaugen umzudrehen. Ein alberner Wunsch, für den sie sich ohrfeigen würde, sobald sie heute nacht in ihrer Kammer lag. Der Eidgraf beobachtete sie einen Moment ohne jede Gemütsbewegung, dann fuhr er fort, sie über ihre Familie und deren Verhältnis zum Haus des herrschenden Landesfürsten zu befragen. Philippa gab vorsichtig Auskunft, und obwohl ihre Antworten eher unverbindlich blieben, schienen sie den Grafen zufriedenzustellen. Mit einem Lächeln beendete er seine Befragung und blinzelte Philippa galant zu. Erleichtert verbeugte sie sich und wollte sich schon abwenden, als er sie zurückrief.
    »Verratet Ihr mir auch noch, wie ich Euren Einwurf über den Apostel Paulus zu verstehen habe, Jungfer von Bora?«
    Philippa starrte auf die Spitzen ihrer Schnürschuhe. »Nun, ich wollte Euch damit keineswegs beleidigen, Herr. Aber mein Vater pflegte mit mir und meinem Bruder gemeinsam jeden Abend in der Heiligen Schrift zu lesen. Daher weiß ich, daß Paulus in seiner Jugend zu Füßen der Rabbiner im Heiligen Land studierte. Sein Lehrmeister war ein Mann namens Gamaliel.«
    »Aber das war vor seiner Bekehrung zum wahren Glauben«, wandte ein Mann auf dem Podium mit von Wein schwerer Zunge ein. »Was sollten die Philosophien der Ungläubigen ihm später genützt haben?«
    Einen Atemzug lang quälte Philippa das unangenehme Gefühl, statt Blut rinne flüssiges Blei durch ihre Adern. Es schien ihr beinahe unmöglich, sich an Nikolaus von Boras Worte zu erinnern. Erst als sie sich die hagere Gestalt ihres Vaters, seine sanfte Stimme und die melancholischen Augen ins Gedächtnis rief, fiel ihr ein, was er ihr damals über das Leben des Apostels beigebracht hatte:
    »Paulus lernte in seiner menschlichen Unvollkommenheit darauf zu vertrauen, daß eine jede unwahre Lehre am Jüngsten Tage zerfallen wird. Sollte sie sich aber doch auf Wahrheiten gründen, die wir noch nicht erfassen, so würde sich dies ebenfalls herausstellen, und welcher Mensch wollte am Gerichtstag schon als Mensch dastehen, der gegen die Wahrheit gekämpft hat? Paulus wurde zum größten aller Apostel, indem er diesen Rat des

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