Die Magistra
nicht die veranschlagte Menge an Dünnbier brauen konnte. Es sei denn, sie beharrte auf dem Recht ihres Gatten.
»Die Herrin hat Eure Amme mitgenommen, und wo sich die Lepperin wieder herumtreibt, weiß kein Mensch«, erklärte die Spülmagd. Verstimmt betrachtete sie den Berg roter Tonschalen im Stein. »Die Rothaarige hätte ruhig einmal in der Küche bleiben und helfen können, aber vermutlich hält sich dieses Weibsbild für etwas Besseres!«
»Frau Luther wird erst gegen Abend zurück sein, Jungfer! Dann braucht der Herr seine Arznei aus Cranachs Apotheke!« Die zweite Magd warf ihrer geschwätzigen Freundin einen warnenden Blick zu und nahm sich einen Lappen, um einer Überschwemmung am Schwenkstein vorzubeugen.
Philippa kämpfte vor Verzweiflung mit den Tränen. Anscheinend gab es niemanden im Haus, der ihr bei der Suche nach dem verschwundenen Kind helfen konnte. Ihren Onkel durfte sie nicht stören. Der Medicus hatte ihn gleich nach dem Gottesdienst in der Schloßkirche zur Ader gelassen und nachdrücklich vor der Reise nach Schmalkalden gewarnt. Doch der einzige Rat, den Luther angenommen hatte, war, sich in einer Sänfte nach Hause bringen zu lassen und sich in seine Gemächer zurückzuziehen. Er würde die Reise um keinen Preis der Welt absagen. Das Pamphlet am Klosterportal war eine Warnung gewesen. Wer auch immer es an die Tür geheftet hatte, mußte damit gerechnet haben, daß die dumpfen Hammerschläge sämtliche Bewohner des Flügels vor das Portal lockten. Der Unbekannte wollte Luther daran erinnern, daß er vogelfrei war und jederzeit getötet werden konnte.
»Falls Ihr seelischen Beistand braucht«, ließ sich auf einmal Schuhbrüggs heisere Stimme vernehmen, »Meister Lupian ist im Garten bei seinen Bienenstöcken.«
Philippa ging nicht in den Garten. Statt dessen stieg sie hinauf zur Schulstube. Über die ganze Aufregung hatte sie ihre Schülerinnen fast völlig vergessen.
Zu ihrer Überraschung saßen die Kinder jedoch gehorsam auf ihren Plätzen und waren in Übungen vertieft, die eines der älteren Mädchen mit einem Stock in der Hand überwachte. Es war Barbara, die Tochter eines Tuchwebers aus der Strohschneidergasse. Als das Mädchen Philippa erkannte, errötete es vor Verlegenheit.
»Seid gegrüßt, Magistra!« Barbara stellte den Stock aufrecht neben das Pult. »Jungfer Maria hat mir bis zu Eurer Rückkehr aus der Stadt die Aufsicht übertragen.« Bei den Worten ›Jungfer Maria‹ blickten einige der Kinder von ihren Schiefertafeln auf und begannen vergnügt zu kichern.
Philippa rang sich ein Lächeln ab und bat die Webertochter freundlich, ihren Platz unter den Kindern der secta tertia wieder einzunehmen. Dann schritt sie die Reihen ab. Maria Lepper hatte den verschiedenen Gruppen Aufgaben zugewiesen, wie sie selbst es nicht besser gekonnt hätte. Die Jüngsten buchstabierten und übertrugen mit krakeliger Schrift Majuskeln aus einem Buch auf ihre Tafeln, die Älteren suchten aus dem Vocabularius Ex Quo lateinische Tiernamen, während die Angehörigen der dritten Gruppe über einigen Beispielen der Logik des Petrus Hispanus brüteten. Das Wort ›Maus‹ gehört zu den Substantiva und läßt sich beugen. Doch frißt die Maus auch Käse. Sollen wir daraus schließen, daß ein Substantivum Käse frißt? Und läßt eine Maus sich beugen?
Im Schulraum herrschte eine gelöste, beinahe heitere Atmosphäre. Die Holzdielen glänzten, das alte Stroh war hinausgefegt worden und die Brandgaben, welche die Kinder für den Kachelofen zu entrichten hatten, hatte man ordentlich zu einem Stapel aufgeschichtet.
Philippa räusperte sich. Sie war viel zu aufgewühlt, um im Unterricht fortzufahren. Dennoch sagte sie: »Wir lesen jetzt gemeinsam das Pater Noster , danach das Credo und den Englischen Gruß …«
»Verzeiht, Schulmeisterin!« Barbara, die offensichtlich genug über Mäuse und Käse nachgesonnen hatte, erhob sich. »Jungfer Lepper hat bereits mit uns die Gebete gesprochen!«
Maria hatte in der Tat an alles gedacht. Einen Herzschlag lang verspürte Philippa Eifersucht auf die Magd, die sich ihren neuen Aufgaben als Schulgehilfin mit soviel mehr Umsicht widmete, als sie es getan hatte. Aber schließlich hatte sie selbst Maria um Hilfe gebeten und konnte froh sein, daß die junge Frau sich nach dem Kirchgang um die Mädchen gekümmert hatte. Außerdem war unschwer zu erkennen, daß Maria sich streng an ihre gemeinsam mit Johannes Luther erarbeiteten Lehrpläne gehalten hatte. Der
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