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Die Magistra

Die Magistra

Titel: Die Magistra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guido Dieckmann
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ungeschickten als mitfühlenden Geste über das Haar strich, war es um Philippas Selbstbeherrschung geschehen. Sie begann haltlos zu schluchzen.
    »Beruhige dich doch, Nichte«, sagte die Lutherin peinlich berührt. »Was soll Magister Bernardi nur von dir denken! Er ist eigens aus der Druckerei herbeigekommen, um uns seine Hilfe anzubieten. Gewiß, die Lepperin ist dir in der Schulstube zur Hand gegangen und war trotz all ihrer Fehler ein gottesfürchtiges Mädchen, aber es ist nicht an dir, um sie zu trauern wie die Dienstboten.« Sie wandte sich ab und ging zum Schreibtisch ihres Gemahls hinüber. »Ich habe Meister Lupian gebeten, ein Schriftstück aufzusetzen, in welchem wir uns dem Stadtrat gegenüber verpflichten, für ein anständiges Begräbnis zu sorgen. Die Kosten dafür entnehmen wir der Kasse für Arzneien und den Unterhalt der Badestube.«
    »Ich danke Euch, Tante, Ihr seid wie immer äußerst großzügig«, sagte Philippa und hoffte, daß Katharina der Sarkasmus in ihrer Stimme nicht entgangen war. Dann wandte sie sich Bernardi zu, der die ganze Zeit kein Wort gesagt hatte. »Ich muß Euch sprechen. Es ist äußerst wichtig!«
    Sie stiegen in die Schulstube hinauf, in der es beruhigend nach Kreide und feuchten Kleidern roch. Philippa ging zu ihrem Pult hinüber und kramte, ohne Bernardi anzuschauen, einen zerknitterten Bogen Papier aus der Innentasche ihres Umhangs.
    »Erinnert Ihr Euch an den Tag, als ich Euch meinen Reuchlin in die Druckerei brachte? Dieses Stück Papier ist aus dem Buch herausgefallen. Ich habe es achtlos in meinen Beutel gesteckt, ohne mich darum zu kümmern.«
    »Und warum kümmert Ihr Euch dann heute darum? Gewiß hat ihn eine Eurer Schülerinnen geschrieben. Fünf Tintenkleckse, und seht Ihr, wie die Linien zum Wortende hin dicker werden, ehe sie in einem Bogen enden? Die Schrift wurde mehrmals abgesetzt, vermutlich, weil die Schreiberin ins Stocken geriet und nicht weiterwußte.«
    »Oder weil ihre Hand verletzt war und einen Verband trug«, unterbrach Philippa den Magister barsch. »Diese Zeilen stammen von Maria Lepper, und sie legte sie in mein Hebräischbuch, weil sie hoffte, daß ich sie dort sofort entdecken würde. Sie beabsichtigte mir etwas mitzuteilen, aber sie hatte Todesangst, dabei beobachtet zu werden. Seit dem Tag meiner Ankunft im Schwarzen Kloster wußte ich, daß Maria sich vor jemandem fürchtete. Zu Recht, wie sich heute herausstellte! Ich muß wissen, wer sie getötet hat!«
    Bernardi hob argwöhnisch eine Augenbraue. »Laßt bitte die Finger davon, Philippa. Ihr tanzt auf mehreren Hochzeiten zugleich. Euer kleines Problem mit dem Eidgrafen von Hoechterstedt …«
    »… wird durch den Tod meiner Schulgehilfin bestimmt um kein Gran geringer!« Philippa stieg von ihrem Katheder herunter und schaute sich nachdenklich in der Schulstube um, als müßte sie hier einen Hinweis finden, der ihr weiterhalf.
    »Der Brief ist in lateinischer Fraktur geschrieben, aber das wißt Ihr ja wohl selbst, Frau Schulmeisterin«, sagte Bernardi nach einer Weile. »Ich schätze, daß Ihr ihn ohne Mühe entziffern konntet.«
    »Das schon, aber seinen Sinn verstehe ich beim besten Willen nicht. Ein Wolf? Ein Mensch, der seine Zunge verliert? Ich hoffte, Ihr wißt mehr Rat als ich, Bernardi.«
    »Das Zitat beschreibt einen alten Volksaberglauben, der bis in die Zeit zurückreicht, in der die römischen Legionen an den Rhein vordrangen«, erklärte der Magister und betrachtete das Papier. »Eure Gehilfin hat ihn sich nicht ausgedacht, wahrscheinlicher ist, daß sie die Worte irgendwann einmal aufgeschnappt und behalten hat.«
    »Aber was hat ein alter Aberglaube mit dem Schwarzen Kloster zu tun?« Philippa bemühte sich, ihre Ungeduld vor Bernardi zu bezähmen, doch es gelang ihr nicht. Die Zeit, die Bernardi brauchte, um sich Marias letzte Zeilen zu erschließen, erschien ihr wie eine Ewigkeit. Und Zeit war im Augenblick das letzte, was ihr zur Verfügung stand.
    »Nun, ich fürchte, kein Mensch kann Euch heute noch mit absoluter Gewißheit erklären, was diese Worte bedeuten«, entgegnete Bernardi schließlich, »aber Ihr entsinnt Euch wohl, daß Wölfe in der römischen Tradition eine große Rolle spielen. Denkt an die Stadtgründer Romulus und Remus; der Legende nach wurden sie als Knaben von einer Wölfin gesäugt. Die Statue einer Wölfin thronte später vor dem Kapitol. Die Römer fürchteten das Tier so sehr, daß sie gar annahmen, ein Mensch könnte seine Stimme verlieren,

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