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Die Magistra

Die Magistra

Titel: Die Magistra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guido Dieckmann
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wenn er einem Wolf begegnete und von diesem zuerst entdeckt wurde. Versteht Ihr Philippa?« Bernardi gab ihr den Brief zurück. » Videre priores  … die Begegnung mit einem Wolf verurteilt einen Menschen zum Schweigen.«
    Philippa stellte sich ans Fenster und starrte auf die Gerüste der Zimmerleute und Steinmetze vor dem Südflügel des Hauses. Auch auf dem Hof hatte das Unwetter erhebliche Schäden angerichtet. Ein paar der grob zugehauenen Gerüstpfähle waren zusammengebrochen und knirschten im Wind wie die Überreste eines Schiffswracks. Auf dem Boden vor dem Portal hatten sich mehrere Pflastersteine gelöst.
    Plötzlich bemerkte sie, wie ein Trupp Männer eilig durch das Haupttor auf den Hof ritt. Es waren etwa zehn Reiter, und sie hielten im Galopp auf den Flügel zu, in dem sich die Wohn- und Arbeitsräume ihres Onkels befanden. Der Mann an der Spitze der Abordnung schien noch recht jung. Er trug Wams und Brustpanzer der Stadtwache. An seiner Seite erkannte Philippa in einem prächtigen schwarzen Rock den Eidgrafen Wolfger, dem eine Handvoll bewaffneter Reiter folgte.
    »Er verliert wahrhaftig keine Zeit«, flüsterte Philippa. Während sie in Bernardis Begleitung die Schulstube verließ, dachte sie darüber nach, ob Marias Warnung sich nur auf einen symbolischen Wolf bezog. Aber was um alles in der Welt hätte den Vertrauten des Landgrafen von Hessen dazu bewegen sollen, eine unbedeutende Magd zu ermorden? Philippa zweifelte keinen Augenblick daran, daß Wolfger skrupellos genug war, eine solche Tat zu begehen. Sollte es ein Zufall sein, daß Marias seltsames Verhalten mit der Nachricht vom Eintreffen des Grafen seinen Anfang genommen hatte?
    ***
    Die unerwarteten Besucher drängten sich in Doktor Luthers Studierstube zusammen. Zu beiden Seiten des Portals hatte der Stadthauptmann seine Bewaffneten postiert. Die beiden Soldaten warfen Philippa und Bernardi einen fragenden Blick zu, ließen sie jedoch auf einen stummen Wink ihres Vorgesetzten eintreten, der die Tür im Auge behielt. Philippa holte tief Luft. Sie hatte nicht erwartet, im Arbeitszimmer ihres Onkels den halben Stadtrat vorzufinden. Sie erkannte Henricus Krapp. Angetan mit seinem kostbaren, bis zu den Knien reichenden Ratsherrenmantel und einer dicken Goldkette, stand er hinter dem wuchtigen Eichentisch des Hausherrn und wischte sich mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn. Neben ihm redete ein hagerer, ältlicher Mann, den Philippa vage als Rektor der Universität in Erinnerung hatte, beharrlich auf den Stadthauptmann ein. Valentin Schuhbrügg und ein weiterer Diener eilten derweil mit langen Feuerstangen umher, doch obgleich sie sich abmühten, alle zur Verfügung stehenden Lampen und Kerzen zu entzünden, hatte Philippa zunächst Schwierigkeiten, in dem Zwielicht ihre Tante zu erspähen.
    Was hatte dieses Aufgebot an Menschen überhaupt zu bedeuten? Hatte der Eidgraf sich wirklich nicht gescheut, mit der Stadtgarde aufzumarschieren, um sie mit Gewalt zurück ins Schloß zu befehlen? Nein, sagte Philippa sich, der Stadthauptmann hat den Auftrag, Marias Tod zu untersuchen. Zweifellos war er lediglich zu dem Zwecke erschienen, im Schwarzen Kloster notwendige Befragungen durchzuführen. Gewiß würde er mit ihr sprechen wollen, schließlich war Maria ihre Gehilfin in der Mädchenschule gewesen.
    Philippas Augen streiften Bernardi, dessen geflicktes, graues Wams mit dem steinernen Bogen der Tür zu verschmelzen schien. Sie konnte nur hoffen, daß der Magister den Stadthauptmann und Graf Wolfger nicht auf den rätselhaften Brief der Lepperin hinwies.
    »Nichte, wo hast du so lange gesteckt?« drang Katharinas verstörte Stimme an ihr Ohr. Mit ängstlicher Miene schob sie sich an den leise diskutierenden Männern vorbei, lächelte gequält, als sie den Eidgrafen am Ärmel berührte, und zog ihre Nichte schließlich zu den Sitznischen vor dem Fenster. Philippa fiel auf, daß ihre Tante sich umgekleidet hatte. Sie trug ein purpurrotes Kleid, das mit Gold- und Silberstickereien verziert war, und einen Schleier aus blütenweißem Leinen, der ihr Haar vollkommen verhüllte. Abgesehen von ihrem goldenen Trauring und einem schmalen Armreif hatte sie jedoch keinen weiteren Schmuck angelegt. Nie zuvor, nicht einmal anläßlich des Gastmahls vor einigen Tagen, hatte Philippa ihre Tante in derart prunkvoller Kleidung gesehen, und plötzlich begriff sie, daß die Ratsherren nicht gekommen waren, um einer einfachen Befragung der Dienerschaft beizuwohnen.

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