Die Maikaefer
sie.
Ich merkte mir jedes Wort des Gespräches, und obwohl ich nicht alles verstand, ahnte ich, dass der Mann dort vor uns im Baum in Gefahr war. Er war ein Gefangener, wenn auch kein Russe oder Pole, wie die auf dem Gut, die hinter einem hohen Stacheldrahtzaun in einer Baracke lebten und bei den Feldarbeiten halfen.
Als wir unter dem Baum angekommen waren, in dem der Gefangene hing, sagte meine Mutter: »Grohmann, Sie wissen, es gibt immer einen Parteigenossen, der sich wichtig machen will«. Grohmann nahm das Fernglas aus seiner Tasche, stellte sich hin und suchte die Gegend ab, ob wir von irgendwoher beobachtet würden.
Ich war neugierig auf den Feind im Baum, der mit den Beinen strampelte und dabei versuchte, sich einen Ast hoch zu hangeln, um dem Stamm näher zu kommen. Zwischendurch ging ihm die Kraft aus, er blieb hängen und starrte auf uns herunter. Plötzlich aber gab es einen Ruck, der Ast brach, und der Gefangene sackte ein Stück tiefer.
»Das ist gut«, sagte Grohmann, kletterte vom Wagen und führte das Pferd so, dass der Ami direkt über der Kutschbank hing. Dann kam Grohmann wieder herauf, stieg auf die Bank, fasste die Füße des Gefangenen, zog und zerrte so lange, bis er neben uns stand. Grohmann tastete ihn nach Waffen ab, schnitt die Riemen des Fallschirms durch und befahl ihm, die Uniformjacke auszuziehen. Er tat das, und dabei kam ein Buch zum Vorschein.
Das war nicht so erstaunlich, denn auch mein Vater hatte mir schon ein paar Mal erzählt, dass er als Soldat immer ein Buch bei sich hatte. In seinem Fall war es Faust, Teil 1, bei anderen die Bibel. Dieses hier hatte eine bunte Zeichnung vorne drauf und sah eher aus wie ein Kinderbuch. Mit seiner Stupsnase, dem roten Haar und einem Gesicht voller Sommersprossen sah der Mann auch selbst wie ein Kind aus. Er lächelte mich an, sagte etwas in seiner Sprache und drückte mir das Buch in die Hand. Ich wusste nicht, ob ich es annehmen durfte, aber Grohmann gab mir die Uniformjacke und machte ein Zeichen, dass ich mich nach hinten verziehen sollte. Dann befahl er dem Gefangenen, neben ihm auf der Bank Platz zu nehmen, band die Leine los, nahm die Peitsche und trieb das Pferd an.
Wir fuhren zurück auf das Gut, wo Grohmann den Gefangenen dem Administrator übergab. Ich dachte, ich könnte die Fliegerjacke Paul zeigen, aber ich durfte nur das Buch behalten.
Als wir zu Hause waren, beschwor mich meine Mutter, über die ganze Geschichte Stillschweigen zu bewahren. Sie wollte auch nicht, dass ich zu irgendjemandem etwas von dem Buch sagte. Das machte mich furchtbar neugierig und nun wollte ich natürlich unbedingt wissen, was drin stand.
Bei unseren ersten abendlichen Lektürestunden erfuhr ich, dass das Buch von einem kleinen Prinzen handelte, der, wie ich, einen abgestürzten Flieger gefunden hatte, mit dem er sich jeden Tag unterhielt. Das konnte ich nicht, denn meinen Flieger sah ich nicht wieder, aber meine Mutter beruhigte mich, er sei wohlauf und werde nach der Gefangenschaft heil nach Hause zu seiner Familie kommen.
Der Flieger in dem Buch war aber nicht in einem Baum hängen geblieben, sondern mit seiner Maschine in der Wüste gelandet, wo es gar keine Bäume gab, und benutzte den Fallschirm nur, um sich damit vor der Sonne zu schützen. Dazu spannte er ihn zwischen dem Propeller und den Flügeln auf und versuchte dort im Schatten, seine Maschine zu reparieren. Plötzlich stand ein kleiner Mann neben ihm, der mit ihm eine Unterhaltung begann, und das war der kleine Prinz.
Das Buch hatte auch Bilder, zum Beispiel die Schachtel, in der das Schaf war, das der Pilot dem kleinen Prinzen gleich zu Anfang schenkte. Während ich mich an der Bewegungslosigkeit der Soldaten in Papas Kriegsbilderbuch stieß, schien es dem kleinen Prinzen nichts auszumachen, dass das Schaf nicht mal ein Bein heben oder kauen konnte. Vielleicht war ich schon verdorben, weil ich einmal mit meiner Mutter im Kino gewesen war, wo sich alle Bilder bewegt hatten. Mehr als die Zeichnungen des Buches faszinierte mich jedenfalls der Name des Planeten, von dem der kleine Prinz kam – B 612.
Als mir mein Vater zum ersten Mal von einer unglaublichen deutschen Wunderwaffe erzählte, war mir sofort klar, dass sie eigentlich B 612 heißen sollte. Er lachte darüber, obwohl er gar nicht wissen konnte, worum es bei B 612 ging. Ich konnte nicht widerstehen zu sagen, B 612 sei ein Planet, aber er hörte kaum hin und meinte, ein Planet fliege schneller als jedes Flugzeug, könne
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