Die Maikaefer
entscheiden«, sagte Grohmann.
Meine Mutter saß hinter uns in der Kutsche und cremte Dagi das Gesicht ein, die das nicht wollte, aber Mama meinte, sonst bekomme sie so viele Sommersprossen. »Was gibt’s denn zu sehen?«, fragte sie.
Ihre vorsichtige Nachfrage war ganz normal, denn alle Nachrichten wurden stets hinsichtlich ihrer Kindertauglichkeit gefiltert.
»Es sind Leute vom Reichsarbeitsdienst, die die Landebahn da bauen, aber im Moment bearbeiten sie mit ihren Schaufeln etwas anderes«, antwortete Grohmann, ohne das Glas abzusetzen und mit einem nicht zu überhörenden Unterton.
Meine Mutter sprang auf. »Das ist doch nicht möglich!«, rief sie. »Das verstößt doch gegen die Genfer Konvention! Geben Sie mal her!«
Die Aufregung war so groß, dass ich an der Leine ruckelte, das Pferd anzog und alle auf dem Hintern landeten, bevor Grohmann meiner Mutter das Glas reichen konnte.
Grohmann nahm mir die Leine weg, rief ärgerlich und scharf »Brrr« und zügelte das Pferd so heftig, dass es den Kopf hochwarf. Dann stand der Wagen wieder, meine Mutter stieg aus und kletterte zu uns auf den Kutschbock. Während Grohmann das Pferd hielt, blickte sie, hoch aufgerichtet, durch das Fernglas.
Ich wartete, dass sie es mir gab, aber nach einer Weile reichte sie es Grohmann zurück, kletterte vom Wagen, ging zu einem Vogelbeerstrauch und erbrach sich. Ohne ein Wort zu sagen, setzte sie sich wieder in die Kutsche, nahm Dagi auf ihren Schoß und legte beide Arme um sie. Grohmann hatte die Leine an der Querstange festgemacht, stand wieder neben mir und schaute selbst durch das Glas, statt es mir zu geben. Ununterbrochen hörte ich in mir die wütende Stimme: Wenn ich bloß erst mal groß bin!
»Gibt’s da keinen Verantwortlichen?«, fragte meine Mutter von hinten.
»Der mit der Waffe herumfuchtelt, ist Ortsgruppenleiter Finke, wenn mich nicht alles täuscht«, sagte Grohmann.
Dann hörte man es knallen, und es klang genauso wie weiße Knallbeeren, wenn ich sie an die Wand warf, doch es waren Schüsse aus einer Waffe, denn Grohmann sagte: »Die Schüsse sind aus Finkes Waffe.«
»Wie viele waren es?«, fragte meine Mutter.
»Sechs.«
»Was ist mit dem anderen? Es waren doch sieben.«
»Der hängt da noch. Sein Fallschirm hat sich verfangen.«
»Ist der schon entdeckt worden?«
»Sieht nicht so aus. Finke und die vom Reichsarbeitsdienst können den wegen der hohen Eichen nicht sehen.«
»Fahren Sie zu, Grohmann, ich möchte daran nicht beteiligt sein.«
Grohmann steckte das Glas wieder in die Ledertasche unter seinem Sitz und ließ antraben. »Zu Ihnen nach Hause?«
»Nein. Wir müssen den da aus dem Baum holen!«
»Wenn Sie es anordnen.«
Grohmann hob die Zügel einmal an, schnalzte mit der Zunge, nahm die Peitsche und knallte in die Luft, sodass das Pferd in Galopp fiel. »Hier müssen wir nach rechts«, sagte er, »bitte festhalten!«
Er bog in einen Feldweg ein, der trocken und ausgefahren war. Nach ungefähr einem Kilometer erreichten wir das Eichenwäldchen, an dessen Rand ein kleiner Bach verlief. Wir folgten den eingekerbten Wagenspuren am Ufer, und nach einigen hundert Metern konnte ich in einem der Bäume den Fallschirm sehen, an dem ein Mann hing.
»Wir sind gleich da«, sagte Grohmann. »Was machen wir mit dem Mann? Ihnen ist sicher bekannt, dass der Reichsführer-SS eine Weisung herausgegeben hat, nach der es nicht Aufgabe der Polizei ist, sich in Auseinandersetzungen zwischen deutschen Volksgenossen und abgesprungenen Fliegern einzumischen, egal ob englischen oder amerikanischen.«
»Woher wissen Sie das?«
»Mein Bruder ist bei der Schutzpolizei.«
»Ist die Weisung ein Freibrief für Lynchmorde?«
»So drücken Sie das aus. Der Chef des Reichssicherheitshauptamtes nennt es würdeloses Verhalten aus falsch verstandenem Mitleid. Er hat vor kurzem noch einmal bekräftigt, dass Himmler alle in Schutzhaft sehen will, die sich gegenüber gefangenen Fliegern würdelos verhalten. Man kann dadurch sogar ins KZ kommen.«
»Wir werden uns nicht aus falsch verstandenem Mitleid würdelos verhalten, Grohmann«, sagte meine Mutter mit Entschiedenheit. »Wir werden den Mann gefangen nehmen und den Behörden übergeben.«
»Heißt das, wir bringen ihn auf das örtliche Polizeirevier nach Naugard?«
»Da ist er doch nicht sicher, Grohmann, das wissen Sie auch selbst. Wir bringen ihn zurück auf das Gut und übergeben ihn Major von Roxin. Der weiß sicher am besten, was zu tun ist«, entschied
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