Die Maikaefer
von keinem Abfangjäger und keiner Geschützkugel eingeholt werden, und wenn er zum Beispiel in England einschlüge, wäre die Insel nur noch ein tiefes Loch, in das das Meerwasser einströme. Da könnten dann auch gleich alle englischen Flotten mit eingesaugt werden.
Das war ein beeindruckendes Bild, und er erfand es am Abendbrottisch in einem Moment, als er sich gerade zwei Spiegeleier nahm. Nicht die englischen Flotten sah ich in dem alles verschluckenden Loch verschwinden, sondern seine beiden Spiegeleier. Vielleicht war es auch mein Schlund, in dem die Eier eigentlich hätten verschwinden sollen. In den Jahren damals war das Essen immer ein Thema. So beeindruckte mich auch das Schaf des kleinen Prinzen schon dadurch, dass es alle Affenbrotbäume auf B 612 auffressen sollte, weil die Bäume den ganzen Planeten mit ihren Wurzeln umklammerten und im Griff hatten.
An einem jener Abende, an denen mich Tante Kläre in weitere Geheimnisse des Buches einweihte, fragte ich meine Mutter noch einmal nach dem Schaf, weil ich dachte, vielleicht hätte ich etwas falsch verstanden.
»Das mit dem Schaf stimmt schon«, sagte sie in ihrer schelmischen und respektlosen Art. »Wenn der Boden zu knapp ist, um die Bewohner zu ernähren, nimmt man sich sogar ein Schaf, um sich Raum zu verschaffen.« Dabei schaute sie Tante Kläre an und lachte.
Die legte den Finger an den Mund und meinte, meine Mutter solle solche Bemerkungen lieber nicht machen. Ich wollte natürlich wissen, warum nicht, aber Tante Kläre sagte wieder mal ihren Satz, das sei nichts für Kinder.
Es machte mir großen Spaß, mit Dagi König und kleiner Prinz zu spielen, obwohl – oder vermutlich weil – diese Figuren vor ihr ein Geheimnis waren. Oft war ich der König, und sie musste tun, was ich ihr befahl, ohne dass sie wusste, woher diese Geschichten und Einfälle rührten. Das Problem war nur: Wenn ich ihr etwas befahl, das sie nicht wollte, fing sie an zu brüllen. Das rief dann gleich meine Mutter auf den Plan, die mir verbot, Dagi zu ärgern.
Also musste ich ihr etwas befehlen, das sie wollte. Dazu musste ich sie zuerst ärgern, denn dann wollte sie sofort etwas, und sie zu ärgern, war ganz leicht. Ich sperrte sie zum Beispiel in die Speisekammer ein, und augenblicklich schrie sie: »Ich will hier raus!« Dann befahl ich ihr, die Speisekammer so schnell wie möglich zu verlassen, und ohne Widerrede befolgte sie meinen Befehl. Wenn sie etwas zu essen haben wollte, machte ich sie zu meinem Gesandten und befahl ihr, sofort zur Köchin zu gehen und ihr den Befehl zu übermitteln, meinem Gesandten etwas zu essen auszuhändigen. Bis auf einmal, als es Bratkrappen gab, klappte es immer. Die in der Pfanne kräftig durchgebratenen Speckschwarten mochte sie nicht, auch nicht, wenn sie richtig knackig waren und beim Kauen zerbröselten.
Manchmal setzte ich Mamas Hut auf und sagte zu Dagi, sie solle klatschen, wenn ich vorbeiging. Das erste Mal ging ich zweimal an ihr vorbei, aber sie klatschte nicht. Mir fiel ein, dass sie vielleicht nicht wusste, was Klatschen ist. Ich zeigte es ihr, nahm ihre Hände und klatschte. Aber auch das nächste Mal schaute sie mich nur groß an. Ich erklärte ihr wieder: »Sieh mal, wenn du klatscht, ziehe ich den Hut.« Dann zog ich den Hut ganz tief und verbeugte mich sogar, aber sie begriff es einfach nicht. Ich drohte, ihr auf den Kopf zu hauen, wenn sie nicht in die Hände klatschte.
Meine Schwester hatte, als sie klein war, eine ganz eigne Widerstandskraft, verstockt nannte das meine Mutter manchmal, und daher klatschte sie nicht. Als ich ihr zur Strafe auf den Kopf haute, fing sie an zu kreischen. Sofort kam Tante Kläre und fragte, was los sei.
»Ich bin der Eitle«, sagte ich, »und deswegen muss Dagi klatschen und mich bewundern.«
Tante Kläre sagte streng: »Dem Eitlen applaudiert die Welt nicht.«
Solche Einsichten sprach sie in einem Tonfall aus, den ich heute blasiert nennen würde. »Selbstherrlich« nannte ihn meine Mutter. (Sie verachtete jede Form von Selbstherrlichkeit). Selbstherrlich – das Wort könnte »eitel« bedeuten, vermutete ich. Von nun an beobachtete ich Tante Kläre genauer, wenn sie sich ihre Dauerwellen legte. Sie trug das Haar nicht streng nach hinten wie Tante Lieschen, sondern praktizierte sich kunstvoll eine ganze Dünung auf den Kopf. Dazu benutzte sie eine Ondulierschere, die sie in der Küche in die Glut legte und umständlich erhitzte. Immer wieder nahm sie sie heraus, tippte sie mit
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