Die Maikaefer
sie jetzt die Marine sei und mit vielen Booten angreifen müsse. »Es sind zu viele Boote, du musst ihr dabei helfen«, sagte er und gab jedem von uns etwa zwanzig Streichholzschachteln, in denen seine Mutter normalerweise Knöpfe, Stecknadeln und anderes Nähzeug aufbewahrte. Der Holzboden im Esszimmer war das Meer, der Teppich die Küste von Frankreich, ein großer Teller die Stadt Calais und ein langes Brett, das er aus dem Gänsestall geholt hatte, der Atlantikwall. »Jede Streichholzschachtel sind hundert Landungsboote«, erklärte er uns, »deine sind amerikanische und deine englische. Ihr braucht dann noch Tassen, weil das die großen Kriegsschiffe sind, unter deren Feuerschutz ihr eure Boote an Land bringen müsst. Außerdem habt ihr noch ganz viele Flugzeuge, das sind die kleinen Stöcke, die ich euch dort hingelegt habe.«
Irmchen und ich warteten geduldig auf weitere Anweisungen.
»Ich bin der Oberbefehlshaber der Verteidigungslinie und feuere auf euch aus dem Schutz des Atlantikwalls. Ich habe zwei angespitzte Bleistifte, und wenn ich euch damit in die Hand oder auf die Finger pieke, müsst ihr die Landungsboote oder die Flugzeuge fallen lassen und euch neue nehmen. An eurer Operation sind alle Feinde beteiligt, nur die Russen nicht. Alles, was ihr habt, müsst ihr hier in den Angriff werfen, und wenn ich all eure Mannschaften und euren Nachschub erledigt habe, könnt ihr nicht mehr Krieg führen und müsst mit dem Deutschen Reich Frieden schließen. Ich ziehe dann alle Truppen auf der Westfront ab und erledige den Russen.«
Pauls Augen glänzten, seine Stimme überschlug sich. Irmchen und ich hofften, dass er mit seinen Ausführungen bald fertig sein würde und wir endlich zu spielen beginnen konnten.
»Die westlichen Alliierten werden uns als Rammbock gegen den Bolschewismus benutzen wollen!«, rief Paul. »Mit ihren Flugzeugen und technischen Reserven werden sie uns helfen, die russische Armee an vier Stellen vernichtend zu schlagen. Churchill und Roosevelt denken, wir sind dann vom Krieg erschöpft, und sie haben dann die Weltherrschaft. Das ist die Falle, in die sie gehen! Deswegen müssen wir Erschöpfung vortäuschen, und das haben wir auch schon gemacht. Darum haben wir die Russen für kurze Zeit die polnische Grenze überschreiten lassen. Zu diesem Täuschungsmanöver gehört auch der Rückzug deutscher Truppen auf der Krim, obwohl die 17. Armee unter Generaloberst Jaenecke ungeschlagen ist.«
Irmchen und ich machten genau, was Paul sich ausgedacht hatte, und trotz der großen Mühen, die ich mir gab, gelang es mir nicht, meine Truppen hinter sein Brett zu bringen. Immer war er schneller mit seinen zwei spitzen Bleistiften und piekte mich, wenn ich dem Brett nahe kam.
»Der Atlantikwall ist uneinnehmbar!«, schmetterte er uns im Siegestaumel immer wieder entgegen.
Bevor Irmchen und ich unsere Kapitulation erklären konnten, kam Pauls Mutter und schimpfte ihn aus, weil er ihren ganzen Nähkorb geplündert hatte. Sie sammelte alle Streichholzschachteln ein und auch die Knöpfe, die wir als Kanonenkugeln benutzt hatten. Wir mussten ihr dabei helfen, und als sie alles konfisziert hatte, kam sie mit dem Häuptlingsschmuck in der Hand zurück, den Paul und ich letztes Jahr aus den Gänsefedern gemacht hatten, und fragte, ob wir nicht lieber im Garten Indianer spielen wollten. Paul wollte das nicht, aber ich nahm den Schmuck, der in allen Farben leuchtete, und zog ihn mir über den Kopf.
»Blöd«, sagte Paul.
»Schön, nicht wahr?«, sagte Pauls Mutter. »Ich habe mir so viel Mühe beim Einfärben der Federn gegeben, und nun trägt er ihn nicht.«
Ich hielt den Mund, weil Paul ziemlich wütend war wegen der abgebrochenen Schlacht. Wut machte ihn nicht aggressiv, er wurde dann nicht laut oder schlug uns, sondern fing an zu weinen. Das wollte ich nicht, gab seiner Mutter aber recht, denn nicht einmal in Pauls Indianerbüchern war ein so prachtvoller Häuptlingsschmuck zu finden. Vielleicht wollte er ihn nicht tragen, weil Irmchen einmal zu ihm gesagt hatte, mit dem Schmuck sehe er aus wie die hübscheste Squaw im ganzen Indianerreich. Wäre ich an seiner Stelle gewesen, hätte ich Irmchen verhauen, aber er schloss sich stattdessen in sein Zimmer ein. Das fand ich seltsam, denn ich empfand das Eingesperrtsein als qualvolle Strafe.
8. KAPITEL
E
ine Kutschfahrt nach Drewitz war für mich wie eine Fahrt ins Paradies, besonders an einem warmen Junitag, wenn die Sonne schon frühmorgens den
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