Die Maikaefer
ihren nassen Fingern an und hielt sie probeweise in Seidenpapier, ob sie vielleicht schon zu heiß wäre. Wenn sich das Papier stark verfärbte, war sie zu heiß und Tante Kläre musste sie erst wieder abkühlen lassen. Das war manchmal ein langes Hin und Her, und sie duldete nicht, dass ich darüber Witze machte. »Lass mich in Ruhe«, sagte sie streng, »geh und füttere lieber deine Kaninchen!« Auch wenn ich die gerade gefüttert hatte. Erst nach vielem Probieren fasste sie mit den Zangen ihr Haar, drehte die Schere und hielt sie eine Weile zugedrückt. Wenn sie sie dann aus dem Haar zog, prüfte sie die Locke im Spiegel, ob sie stabil genug wäre. Wenn sie fertig war, hatte sie auf dem Kopf drei verschiedene »Brandungen«, wie ich zu ihrem Ärger die Anordnungen ihrer Wellen nannte: Wellen, die von der Stirn in den Nacken liefen, Wellen, die rechts den Kopf umspielten, und die Wellen links vom Kopf.
Dieser aufwändigen Prozedur unterzog sie sich nicht jeden Morgen, sondern nur wenn sie ausging, bei Besuch oder wenn der Leierkastenmann in die Stadt kam. Er hatte stets einen Affen bei sich, dem ich eine Mohrrübe, Nüsse oder ein Stück Apfel geben durfte. Der Affe hing an einer Kette, die ihm genügend Raum zum Herumspringen ließ, und als Tante Kläre einmal unaufmerksam war, griff er zu und erwischte eine ihrer ondulierten Locken. Sie kreischte auf, beschimpfte den Affen und den Leierkastenmann, der zu spielen aufhörte und höflich, aber eindringlich sagte: »Passen Sie auf, gute Dame, Sie dürfen ihm nicht zu nahe kommen, sonst fasst er Ihnen ins Haar!«
Ich lief gleich zu meiner Mutter und erzählte ihr die Geschichte. Wir machten eine Menge Witze darüber und lachten, ohne zu bemerken, dass Tante Kläre inzwischen in der Tür stand. Meine Mutter wurde ziemlich bleich, als wir spitz zu hören bekamen: »Euch wird das Lachen schon noch vergehen, wenn die Russen kommen.«
Der Affe des Leierkastenmannes, der Dinge wie ein Mensch tun konnte und dafür nicht einmal gescholten wurde, beschäftigte mich, und ich lief zu Paul hinunter, um ihn zu fragen, ob er den Affen auch gesehen habe. Hatte er nicht. Ich beschrieb ihm die eben erlebte Szene bis zu der Bemerkung Tante Kläres über die Russen. Er lachte zwar auch über die zerzupften Locken, aber viel wichtiger war ihm jener letzte Satz, und er erklärte mir, dass Tante Kläres Vorhersage wegen des Ostwalls niemals eintreten könne. Sofort zeigte er mir, wo der Ostwall verlief. An ihm würden die heranrückenden Russen scheitern, wenn sie denn überhaupt so weit kommen sollten.
Ich hatte von meiner Mutter gehört, wie viele Frauen, Alte, auch Kranke am Ostwall graben und schippen mussten, bis sie kraftlos zusammenbrachen. Sie sagte nicht, warum ihr und Pauls Mutter der Dienst dort erspart geblieben war, aber ich fand schon die Möglichkeit unangenehm. Inzwischen hatte Paul eine Schlachtordnung aufgebaut und wollte, dass Irmchen und ich die russischen Panzer und Bleisoldaten herumschoben. Irmchen hatte dazu ebenso wenig Lust wie ich.
Er fragte uns, ob wir denn lieber den Kriegsanfang spielen wollten. Wir schüttelten den Kopf. Oder das Kriegsende? Irmchen gab als Erste nach, und dann auch ich, denn das Ende würde vielleicht nicht so lange dauern.
Irmchen war genauso alt und fast genauso groß wie ich, aber nicht so wild. Tante Kläre sagte, sie sei ein gut erzogenes Mädchen, und sie würde es noch einmal zu etwas bringen. Irmchen trug Kleider und Affenschaukeln, die Dagi an sich nicht duldete. Sie fing sofort an zu kreischen, wenn meine Mutter die Enden ihrer Zöpfe zum Zopfanfang hochschlagen wollte, um sie festzustecken. Sie sahen dann aus wie Schaukeln und konnten sich nicht so leicht irgendwo einhängen. Das war nämlich schon passiert, einmal hatte ich einen ihrer Zöpfe in den Honigtopf getaucht, und ein anderes Mal war einer in heißes Gänseschmalz geraten. Dagi aber lehnte Affenschaukeln ebenso ab wie einen Kopfkranz, bei dem die Zöpfe um den Kopf gelegt und festgesteckt wurden. Das war meine Lieblingsfrisur, und die trug Irmchen immer sonntags. Dann sah sie mit dem goldblonden Haar aus wie eine Prinzessin, die eine geflochtene Haarkrone trug. Meine Mutter verglich sie mit Isolde, der schönsten Königin im alten Europa. Ich konnte mir keine Schönere als Irmchen vorstellen, besonders wenn sie das hellgrüne Kleid mit den Mohnblumen darauf anhatte.
An jenem Tag trug sie ein blaues Kleid, und Paul meinte, das habe sie extra angezogen, weil
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