Die Maikaefer
solche Impulse kamen und er nicht sogleich an sein Spielzeug konnte, geriet er in Panik, doch es war keine Panik, die ihn herumtoben ließ. Im Gegenteil: Es war ein Zustand, der mit einer äußeren Antriebslosigkeit einherging. Wenn er älter gewesen wäre, hätte er nachdenken können, was ihm zu schaffen machte und wie sich das auf die Dauer ändern ließe, aber so jung, wie er war, hatte er keine Ahnung davon, was mit ihm los war, zumal sich ihm von den wenigen Begriffen, die ihm für die Beschreibung seelischer Zustände zur Verfügung standen, der in diesem Fall passendste wie von selbst verbot: Angst. »Ein deutscher Junge kennt keine Angst« war nicht nur ein stehendes Wort, es war der Grundakkord einer ganzen Kultur, die Paul umgab. Und nicht nur umgab, sie bildete den fruchtbaren Boden, dem Paul entsprossen und auf dem er wie ein Mustersoldat gewachsen war.
Er suchte in seinen Erinnerungen nach einem Sieg. Dass das Siegen das Leben sinnvoll machte, war nicht nur seine Überzeugung, auch alle anderen glaubten es.
Wenn es keine Siege gab, wie in Stalingrad, bediente er sich verschiedener Taktiken der Umdeutung: Er trauerte nicht um die deutschen Opfer, sondern schrieb die meisten Toten den Gegnern zu. Sie waren besiegt worden, doch den Widerstand, den die Deutschen geleistet hatten, überhöhte er zu einem Schachzug: Stalingrad habe die strategisch wichtige Funktion gehabt, die russischen Kräfte zu binden, sodass die Deutschen an allen anderen Ostfronten leichtes Spiel haben würden.
Während im Speisezimmer der Tisch abgeräumt wurde und alle sich zu einem Rommé-Spiel im Kaminzimmer niedergelassen hatten, stand Paul in seiner Schlafkammer, hörte weder das Zirpen der Schwalben noch das Klappern der Storchenschnäbel, sah nicht einmal das Bett vor sich, sondern blätterte im Geist immer wieder all die Fakten durch, die er gespeichert hatte. Durch seinen Kopf liefen wie elektronische Schlagzeilen kurze militärische Informationen, die er sich nach den Telefonaten mit seiner Tante oder während der Nachrichten vor dem Volksempfänger notiert hatte: Britische Einheiten besetzen Tripolis, der Tunesien-Feldzug, die Mareth-Linie und der Einsatz der Strafdivision 999. Der Sieg der SS-Sondereinheit Dirlewanger über das Dorf Chatyn am 22. März 43, was tatsächlich nur eine Nebenbemerkung seiner Tante gewesen war, mit der sie nicht viel preisgegeben hatte. Sein suchendes Hirn sprang zurück. Es war der Tag im Oktober 41, an dem Charkow, die viertgrößte Stadt der Sowjetunion und Produktionsstätte des T-34 von deutschen Truppen erobert wurde. Ja, das war gut, sehr gut sogar, denn die Besetzung führte zu der berühmt gewordenen Schlacht bei Charkow im Mai 42, in der die wieder angreifende russische Armee blutig geschlagen worden war. Später waren die Deutschen im Februar 43 kurzzeitig aus Charkow abgezogen, sodass die Russen die Stadt besetzen konnten, aber sofort darauf hatte die Wehrmacht zurückgeschlagen und Charkow nach schweren Gefechten wieder eingenommen.
Paul lächelte, denn Charkow einzunehmen hatten die Russen im Mai 42 nicht geschafft!
Seine Stimmung verdüsterte sich aber gleich wieder, als er daran dachte, dass die Stadt, wenngleich nur noch ein Trümmerhaufen, schon drei Monate später den Deutschen endgültig verloren gegangen war.
Vielleicht war es besser, sich auf ruhmreiche Spezialeinheiten zu konzentrieren, statt auf ruhmreiche Schlachten und Orte.
Diese Wendung brachte im ersten Moment nicht gleich den Gedankenblitz, der Paul aus allem Frust erlöste, doch nach einer Weile erinnerte er sich an eine Bemerkung seiner Tante über einen ihrer wichtigen Bekannten. Es war Gottlob Berger, der die SS-Sondereinheit Dirlewanger protegierte. Seine Tante hatte ihm erzählt, dass das Sonderregiment aus ehemaligen Wildschützen bestand. Das hatte sofort Pauls Interesse geweckt, denn er besaß nicht nur eine Tesching-Luftpistole, sondern war bei seinem letzten Berlin-Besuch anlässlich einer Schießübung des Reichsjungvolkes mit großer Begeisterung an der langen und der kurzen Waffe ausgebildet worden.
Da Paul seine vielen Spielzeuge nicht bei sich hatte, mit denen er die Schlachtordnungen hätte nachstellen können, suchte er nach einem Ersatz. Chatyn fiel ihm ein, und es kam ihm die Idee, Gut Drewitz als diesen Ort zu nehmen und Dirlewangers Angriff nachzuspielen. Hotte hatte ihm erzählt, dass er das Gut zusammen mit dem Tischlergesellen Hermann Beckering nachgebaut und auf eine Sperrholzplatte
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