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Die Maikaefer

Die Maikaefer

Titel: Die Maikaefer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Burkhard Driest
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Angewohnheit, beim Reden mit der Zungenspitze über ihre vollen Lippen zu fahren, und weil sie oft nach frischem Brot roch, dachte ich, sie schmecke das Brot nach. Ich mochte das und ließ sie gerne das Brot nachschmecken und mich in die Arme nehmen.
    Im Winter trug sie eine graue Pelzmütze, die sie bis über ihre Augenbrauen in die Stirn zog. Dann sah ich nur ihre Augen, die haselnussbraun waren. Den grauen Wollmantel, der eng anlag, zurrte sie mit einem breiten Gürtel nach Kosakenart um die Taille. Nicht nur die Russen, auch die Gutsarbeiter drehten sich nach ihr um und machten heimliche Bemerkungen über ihre dicken Wollstrümpfe, wie zum Beispiel Schmierbacke: »Ihre Strümpfe sind dick, ja, aber die Beine werden dadurch nicht kürzer.« Seit der Administrator sie als Dolmetscherin einsetzte, nannten die Frauen des Gutes sie das »Russenweib«.
    »Na, wollt ihr Kuchen holen«, fragte sie, als sie das Brot wegtrugen.
    »Ja, aber eigentlich will ich meinem Freund zeigen, wie das Backhaus heult.«
    Das Backhaus hatte nämlich eine seltsame Akustik. Man konnte darin rufen, heulen, schreien, alles kam zum Schornstein heraus und klang wie das Röhren eines gequälten Windes. Die Frauen im Dorf sagten, irgendwann sei da jemand umgebracht und zu Brot verbacken worden, und seine Seele beginne immer wieder zu jammern, wenn sie andere klagen höre.
    Um Paul das zu demonstrieren, ging ich mit den Mädchen hinein und sagte zu Otto Buns, wir wollten einen Klagechor machen. Er lachte und hatte nichts dagegen. Bevor wir anfingen, schaute ich aus dem Fenster, ob Paul auch im richtigen Abstand draußen stand, da, wo man es am besten hörte. Der Abstand passte, aber er lauschte nicht, sondern hielt Hotte einen Vortrag. Also mussten wir besonders laut heulen. Wir klangen wie eine kleine Herde zu Tode gepeinigter Tiere. Es erinnerte mich an den Schlachthof, und eine Gänsehaut lief mir über den Nacken.
    Paul aber blieb von unseren Schreckensgesängen unberührt, weil er sich dauernd mit Hotte unterhielt. Es ärgerte mich, aber vor dem starken Hotte wagte ich nicht einzugreifen. Als ich ihn dann später fragte, ob er unseren Gesang gehört habe, fragte er erstaunt: »Ihr habt gesungen?«
    »Ich wollte dir doch zeigen, dass es so unheimlich klingt, wenn man im Backhaus schreit.«
    »Dies Katzenmiauen war von euch?«
    Im ersten Moment glaubte ich, er wollte mich ärgern, und ich sah ihn böse an. Doch er war freundlich und lieblich wie immer, so dass ich ihm sofort verzieh und ihn fragte, was er Hotte erzählt habe. »Ich habe ihm von der Phase Zwei der polnischen Kriegsvorbereitungen erzählt«, sagte er. Dabei schaute er mich mit dem unschuldigen Blick eines Mädchens an, bekam rote Ohren und fing sofort an, mir den Überfall der Polen auf den deutschen Radiosender in Gleiwitz zu beschreiben.
    Während Paul ganz in seinem Element war, beobachtete ich die Schwalben, die im April aus dem Süden zurückgekommen waren. Drewitz war ein Paradies für Schwalben. Ich liebte es, in den Abendstunden auf einer Mauer zu sitzen und den eleganten Seglern zuzuschauen. Die Rauchschwalben bauten ihre Nester in Ställen, in Scheunen und in den Häusern der Arbeiter, die die Schwalben als Glücksbringer betrachteten. Die Nester, die aussahen wie Teetassen, waren aus Schlamm und Halmen. Die Anflugkante lag dicht unter der Decke. Den Schlamm für den Nestbau holten sie vom Rand des Gutsteiches oder aus Pfützen. Sobald sie ihre Nester bezogen hatten, begannen sie mit der Brut. Beide Eltern fütterten die Jungen, und sie hatten gut zu tun, denn manche Weibchen brüteten dreimal. Besonders sympathisch waren sie mir, seit ich einmal gesehen hatte, wie eine Katze in den Stall kam: Die Schwalben gingen sofort zu mehreren in den Tiefflug und machten über der Feindin so lange ein Gezeter und Geflatter, bis sie sich genervt trollte.

9. KAPITEL
    P
    aul stand wie erfroren in seiner Schlafkammer, obwohl es kein Tag im Januar 1943 war, voller Kälte, Schnee und Eis, sondern ein schöner Juniabend von wundervoller Milde. Jeder spürte das Herannahen eines Sommers, der voller Lust sein würde. Die Enten, Gänse, Kühe, Pferde, Menschen und Spatzen – alles, was atmete, wollte nichts als weiter atmen und sich bewegen. Herumtollen, fressen und lieben. Paul nicht. Ihm waren solche Gefühle nicht vertraut. Er war häufig von unangenehmen Spannungen bedroht, die er als Langeweile oder Leere empfand. Davon erlöst war er nur, wenn er seine Schlachten spielen konnte,

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