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Die Maikaefer

Die Maikaefer

Titel: Die Maikaefer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Burkhard Driest
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für die er alles nutzte, was ihm an Material in die Hände kam. Dies war nicht nur ein Ausweg aus den ihn bedrängenden Ängsten; er war stolz darauf, denn er organisierte die einzelnen Kriegskatastrophen im Kleinen, wie sein Führer es im Großen tat.
    Er wollte sein Spielzeug haben, ohne das ihm nichts Spaß machte, und er hatte es schon lange genug entbehren müssen. Sechs Tage. Er merkte, dass sich in ihm alles zu einer Krise zusammenbraute. Das hatte er schon einmal erlebt, als er bei einem Besuch seines Vaters drei Tage Spielentzug hatte durchstehen müssen. Die Strafe war wegen »mädchenhaften Benehmens« gegen ihn verhängt worden. Pauls Vater reagierte ziemlich allergisch auf die Augenaufschläge seines Sohnes, bestimmte Kopfbewegungen, den Gang, die meist zu langen Haare, sein plötzliches Lachen. Er wollte »solche Regungen« gleich im Kelm ersticken. Einen homosexuellen Sprössling hätte er auf keinen Fall ertragen. Der spezielle Grund für den dreitägigen Spielentzug war ein parfümiertes, seidenes Halstuch seiner Mutter, das er sich ahnungslos umgelegt hatte, weil er nicht wusste, dass sein Vater im Anmarsch war.
    Den heutigen Tag hatte Paul bei der Ernte der Wintergerste verbracht, bei der er zusammen mit den anderen Jungs helfen musste, wenn er sein Gesicht nicht verlieren wollte. Morgen sollte er beim Pflügen und Eggen dabei sein, aber dagegen hatte er sich zur Wehr gesetzt und vor dem Abendessen versucht, durch eine vorgetäuschte Migräne früher nach Hause zu kommen. Er hatte keine Kutsche beansprucht, sondern wollte den ganzen Weg nach Naugard gehen, aber alle hatten auf ihn eingeredet, es gebe bald Abendbrot, er solle einfach durchhalten. Als sie begriffen, dass er kein Abendbrot wollte, hatte meine Mutter ihn mit zwei Kopfschmerztabletten ins Bett geschickt.
    Nun stand er mitten in seiner Kammer, das Gesicht bleich, die Lippen blass, während er in seinen Erinnerungen Zuflucht suchte. Er konzentrierte sich auf das, was ihm seine Tante berichtet hatte, im Radio und bei ihren zusätzlichen Anrufen. Aus diesem ganzen Wust von Kriegsinformationen entschied er sich für die russische Gegenoffensive in Stalingrad. Eine Million Menschen in sieben Armeen traten an, um die in einem Nord- und einem Südkessel umzingelten Deutschen zu vernichten. Er sah es in Bildern vor sich. Er wollte es nicht wahrhaben und hatte schon zu Hause mehrmals den Widerstand der 6. Armee mit seinen eigenen Truppen variiert, sodass sie gewannen. Doch weil er wusste, dass es so nicht verlaufen war, sondern dass die Meisten starben und die Restlichen in die Gefangenschaft gingen, ließ er die Übergabe nach der Kapitulation am Ende zu. Danach war er jedes Mal erschöpft. Er legte sich dann neben das Schlachtfeld auf die Erde und starrte ausgelaugt zur Decke. Essen hätte er in diesen Momenten nicht können, schlafen auch nicht, denn sobald er sich erholt hatte, spürte er schon wieder diese beunruhigende Spannung, so als befände er sich in der vordersten Kampflinie der Front und wäre der Einzige, der bestimmte Geräusche oder schattenhafte Bewegungen wahrnahm, die einen Angriff des Gegners andeuteten, während alle anderen vor Kraftlosigkeit besinnungslos geworden waren oder die Zähesten von ihnen beim Schein einer Taschenlampe Skat spielten oder einen Brief an die Liebste schrieben. In seiner Kriegswelt gehörte Paul nicht zu den Liebesbriefschreibern und Skat konnte er sowieso nicht, davon hatte er nur aus Soldatenberichten erfahren. Sein angespannter Zustand, der diese Kriegsspiele immer in Gang setzte, hätte das auch gar nicht erlaubt. Er war dieser Spannung ausgesetzt, so wie jetzt, und hier auf Drewitz hatte er noch nicht einmal jemanden, der ihm die letzten Frontberichte mitteilte. Er hatte ein paar Mal versucht, aktuelle Nachrichten im Radio zu hören, sich sogar versteckt, aber Dagi und ich hatten ihn immer ziemlich schnell entdeckt. Unserer Mutter kam dann, rief »Raus an die frische Luft!« und drehte das Radio aus. Er konnte auch mit keinem über wichtige Sachen reden, denn niemand hier interessierte sich für den Krieg. Das hatte ihm Hotte, der Junge aus der Schmiede, außerdem deutlich gesagt.
    Er hätte gar nicht mit hierher fahren dürfen, es war ein Fehler gewesen. Was sollte er hier? Gänse hüten, Kühe melken oder die Toten auf dem Friedhof, die nichts mehr leisten konnten, mit Wasser begießen?
    Ganz sacht nahm Pauls innere Bedrohung zu. Er merkte es, ohne dass es ihm direkt bewusst wurde. Wenn

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