Die Maikaefer
waren so hoch, dass die Kleinen nicht viel sehen konnten.
Paul wollte gleich wieder mit den Polen anfangen, und ich schlug schnell vor, zur Schmiede zu gehen. Wir würden dort Hotte treffen, der vielleicht mehr von Polen verstand als ich. »Der kann Russisch«, sagte ich.
Hotte stammte aus einem kleinen Ort bei Köln. Er war der jüngste von sieben Brüdern, die alle im Feld standen. Seine Eltern waren bei einem Fliegerangriff ums Leben gekommen, und damit Hotte nicht das gleiche Schicksal ereilte, kam er im Alter von zwölf Jahren mit der Kinderlandverschickung nach Drewitz. Ihm fehlte seine Familie sehr, und so war er dankbar, dass ihn der Schmiedemeister Max Wendt und seine Frau Gerda wie ein eigenes Kind aufgenommen hatten. Max Wendt war außerdem sehr bemüht, ihn zu einem guten Schmied zu machen.
Wenn es kalt war, trug Hotte einen langen Luftwaffenmantel von einem seiner Brüder und eine dunkelblaue HJ-Mütze aus dickem, schmiegsamem Stoff mit einem Schirm, den er so häufig wie möglich putzte und polierte. Von einem anderen Bruder hatte er die HJ-Bluse, die er jeden Sonntag anzog. Sie zierten schöne Knöpfe, die er mir schenken wollte, wenn er die Bluse einmal nicht mehr brauchte.
Hotte war über beide Ohren verliebt in Kathrin Wendt, die Tochter von Max und Gerda. Sie war zwar sechs Jahre älter als er, aber das bedeutete nicht viel, denn nicht nur er, sondern auch alle anderen waren in sie verknallt. Daran konnte auch Martha Ossowski nichts ändern, wenngleich die sich alle Mühe gab. Martha hatte die Wäschekammer unter sich und war damit Kathrins Chefin. In dieser Eigenschaft bestand sie darauf, dass Kathrin ihr glänzendes kastanienbraunes Haar unter einem strengen grauen Kopftuch verbarg und immer zurückhaltend aufzutreten hatte. Ich nannte Martha wegen ihrer stechenden Augen und der schrillen Stimme immer »Habicht«. Wenn Kathrin sich nach der Arbeit das Tuch abstreifte und ihr Haar mit einem Schwung herabfallen ließ, was sie gerne vorführte, begriff selbst Martha, dass sie die Schönste auf Drewitz war. Egal ob Martha schimpfte oder die Männer Scherze machten oder pfiffen, alles belohnte Kathrin stets mit einem fröhlichen Lachen.
Dabei ließ sie sich nie auf Liebeleien ein, was mir besonders gefiel. Tante Kläre sagte, als ich ihr das erzählte, sie wartete auf mich, und behauptete, ich wäre in sie verliebt. Hotte war es jedenfalls.
Als wir an der Schmiede ankamen, wurde gerade eines der Pferde beschlagen. Hotte betätigte den Blasebalg und winkte uns zu. Ich führte Paul und die Mädchen in eine Ecke, wo sie einen sicheren Abstand von dem Pferd hatten. Nicht alle Pferde ließen das Beschlagen so einfach über sich ergehen, und gerade dieses war ziemlich nervös. Um es fester im Griff zu haben, hatte ihm Max einen Holzstab mit einer Schlinge über die Oberlippe gestreift. Immer, wenn es wild wurde, drehte er den Stab, bis es den Schmerz verspürte und still hielt. Wenn das nicht reichte, kam es in einen Bock, wo alle Bewegungen völlig eingeschränkt waren, doch versuchten es Max und Hotte immer erst mit gutem Zureden.
Den Mädchen gefiel es nicht in der Schmiede, und auch Paul wartete auf die erstbeste Gelegenheit, um zu verschwinden. Als Hotte eine Vesperpause einlegte, gingen wir alle zum Backhaus, denn heute war Backtag, und Bäcker Otto Buns achtete darauf, dass auch für die Kinder mitgebacken wurde. Kleine Brote und Kuchen. Man brauchte nur vorbeizukommen und darum zu bitten, und schon hatte man ein duftendes und warmes Gebäckstück.
Otto Buns beaufsichtigte zwar das Backen, aber eigentlich backte jede Familie für sich. Die Brote wogen zwei Kilogramm, und eine Ration von fünf oder sechs Broten pro Familie musste für die Woche reichen. Das Gutshaus ließ nachmittags backen. Der Diener Heinrich Bach, die Mamsell und eine Küchenbedienstete holten das Brot auf einem großen Tragetisch ab. Die Küchenbedienstete war diesmal Nina Nowikow, eine Schwarzmeerdeutsche aus der Ukraine, die Russisch, Polnisch und Ukrainisch sprach und für den Administrator zwischen ihm und den russischen Gefangenen dolmetschte. Ansonsten half sie in der Küche und beim Servieren.
Einmal war ich beim Übersetzen zwischen dem Administrator und russischen Kriegsgefangenen dabei gewesen und hatte gesehen, wie die Blicke der Männer an ihr hingen, wenn sie mit knappen Bewegungen ihre Worte unterstrich oder ihr rotbraunes Haar nach hinten nahm und mit einer Klemme feststeckte. Sie hatte die
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