Die Maikaefer
den Zucker fallen ließ, als das Pferd mit den Zähnen zuschnappte.
»Macht nichts«, sagte sie mit vollem Unverständnis und nahm mir meine Lieblingsbeschäftigung ab.
»Der kann das gar nicht«, hörte ich Dagi aus der Kutsche krähen.
Die nun auch noch! Am liebsten wäre ich gleich wieder abgereist, aber ich riss mich zusammen und fragte, ob ich bei Tante Ulla vorne sitzen dürfe. Sie erlaubte es. Sie nahm den meisten Platz ein, aber ich war so dünn, dass es für uns beide reichte.
Auf gerader Strecke ließ sie mich sogar die Leine halten, aber wenn sie sie mir wieder wegnahm, lachte sie jedes Mal. Sie hatte einen dunklen Fleck auf der Oberlippe, aus dem Haare wuchsen und, wie ihr Bruder Otto, dunkle, buschige Augenbrauen. Sie war keine Schönheit, sie wirkte eher wie ein Mann, und meine Mutter meinte, Christoph Grisard könne von Glück reden, so eine tüchtige Landwirtin zur Frau zu haben, denn sonst wäre sein Gut schon längst in die Binsen gegangen.
Onkel Christoph war ein hagerer Mann von fast sechzig, ein Bücherwurm und voller Liebe zu seiner Tochter Urte, aber auch zu allen anderen Kindern. Was Tante Ulla verbot, erlaubte er hinten herum und nahm dann den Tadel auf sich. Sicher freute er sich sehr auf die Hochzeit seiner Tochter in einer Woche, zumal Urte eine »gute Wahl getroffen hatte«, wie es in der ganzen Verwandtschaft hieß. Werner Marzuk hatte in Berlin Landwirtschaft studiert und diente im Moment als Oberleutnant bei einer Kavallerieeinheit. Nach dem Krieg würde er das Gut übernehmen und es modernisieren.
Als wir auf der Chaussee waren und der Wind uns eisig entgegen kam, zog sich Tante Ulla über ihr dichtes, dunkelbraunes Haar eine rote Strickmütze mit Ohrenklappen, die sie unter ihrem Kinn festband. »Ist dir kalt? Du hast ja eine ganz rote Nase.« Sie nahm eine Decke und legte sie mir über Beine und Schoß. »Drunter die Hände, dann erfrieren sie dir nicht!«
Das tat ich nicht, denn ich wartete darauf, dass sie mir die Leine zurückgab. Außerdem reichten mir meine Fäustlinge.
Während der Fahrt erzählte sie meiner Mutter, die mit Dagi hinten saß, was in der Zwischenzeit alles auf dem Gut passiert war und unterbrach ihren Bericht nur, wenn sie laut etwas zu den Pferden sagte, was sie mit dem Knall der langen Peitsche unterstrich oder indem sie mit ihr den Rist der Pferde kitzelte. Jedes Mal gab es einen Ruck, die Pferde zogen an und die Glöckchen klingelten schneller. Sagte meine Mutter etwas, lehnte sie sich nach hinten und drehte den Kopf ein wenig. Als sie das wieder einmal tat und wir eine gerade Strecke mit festgefahrenem Schnee vor uns hatten, zog ich schnell meine Handschuhe aus und grabbelte mit meinen Händen in ihre dicken Fäustlinge, um ihr die Leine aus der Hand zu nehmen. Sie ließ es geschehen, um die Beschreibung der Hochzeitsvorbereitungen nicht zu unterbrechen.
Gegen Abend wurde es noch kälter, sodass mir Tränen über Wangen und Schläfen rannen. Als wir über die lange Allee auf das Herrenhaus zufuhren, krochen graue Winterschatten aus allen Hecken und Ecken, doch das Gutshaus trotzte der Winternacht mit zwei Laternen links und rechts der Freitreppe und vielen erleuchteten Fenstern im Hochparterre und im ersten Stock.
»Ihr habt ja große Festbeleuchtung«, sagte Mami bewundernd. »Ihr nehmt es mit der Verdunklung wohl nicht so genau?«
»Wenn die in Berlin es mit allem so genau nähmen wie wir, hätten wir gar keinen Krieg.«
Der Hausdiener und zwei Mädchen nahmen das Gepäck an, während ich auf dem Kutschbock blieb, auf dem jetzt der Stallmeister Platz nahm. Ich wollte ihm beim Ausspannen der Pferde helfen.
»Bleib nicht zu lange!«, rief Tante Ulla. »Das Essen wird schon aufgetragen.«
Abends gab es geräucherten Aal mit Pellkartoffeln. Anschließend eine klare Fischsuppe mit Sellerie. Als Hauptgericht wurde Karpfen serviert und zum Abschluss eine Zitronencremespeise.
Die Zitronencremespeise schmeckte Dagi am besten, das flüsterte sie mir zu. Mir aber schmeckte alles.
Wir schliefen im ersten Stock in der Gästesuite gleich an der Treppe. Die anderen Zimmer würden erst belegt werden, wenn die Hochzeitsgäste einträfen, sagte das Mädchen, das uns zeigen wollte, wo wir noch zusätzliche Decken fänden, falls es zur Nacht zu kalt würde.
Unser Kinderzimmer hatte zwei große Betten, die sich gegenüber standen, sodass ich Dagi beim Einschlafen beobachten konnte, wenn ich auf der Seite lag und geradeaus schaute. Ich musste aber das
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