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Die Maikaefer

Die Maikaefer

Titel: Die Maikaefer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Burkhard Driest
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versuchte, meine Aufmerksamkeit auf die vorbei gleitende Landschaft zu lenken. Es war Ende Januar, ein eiskalter Winter, alles war eingeschneit, grau das Licht über der Schneelandschaft. Das gleichmäßige Rumpeln des Zuges hatte uns darauf eingestimmt, dass die Fahrt vielleicht länger dauern könnte, denn die Kleinbahn blieb in schneereichen Wintern wie diesem oft stecken. Dann hatten der Lokführer und die Schaffner Stunden damit zu tun, die Wagen freizuschaufeln. In den letzten Jahren waren Schneezäune aufgestellt worden und die Schneewehen stellenweise so hoch, dass sie die Sicht aus den Abteilfenstern verdeckten. Es war eine Schmalspurbahn von einem Meter Breite, mit zweiter und dritter Klasse. Die dritte besaß Holzbänke, aber wir reisten in der zweiten, wo die Sitze gepolstert waren. Direkt unter den Sitzen befanden sich die Öfen, die von außen mit Briketts geheizt wurden, sodass sich mein Hintern schön wärmte. In Schneidemühl blieben wir vor einem hölzernen Schild stehen, auf dem ein springender Hirsch mit einer goldenen Krone zwischen dem Geweih prangte. Hirsche gab es hier, aber ich hatte noch nie einen lebenden gesehen. Während des Aufenthalts kam der Zugführer mit einem Eimer voller Briketts, die er von außen in den Heizofen unseres Waggons nachlegte.
    Endlich verteilte meine Mutter den Kartoffelsalat, aber Dagi ließ ihren erst einmal stehen, weil sie schon wieder auf die Toilette musste und meine Mutter mitging, um sie »abzuhalten«, was hieß, sie mit dem nackten Po über das Toilettenbecken zu halten. Als sie zurückkamen, hatte ich meinen Kartoffelsalat und das Würstchen schon verputzt und ein bisschen bei Dagi und meiner Mutter stibitzt. Ich fragte sie, ob sie keinen Hunger habe. Hatte sie aber. Leider. Ich bot ihr meinen Fensterplatz an, wenn sie mir die Hälfte abgebe, aber auch das wollte sie nicht. So schaute ich aus dem Fenster, wo bis zum Himmel alles weiß und grau war. Es gab nichts zu sehen, also wurde ich auch nicht von meinem Hunger abgelenkt, der immer bohrender wurde.
    »Warte, bis wir da sind, da gibt’s gleich was«, sagte meine Mutter. Doch das schien mir eine Ewigkeit. Ich hauchte die Scheibe an und malte einen Teufel ans Fenster. Wenig später bereute ich es, denn Tante Kläre hatte mir oft eingeschärft, man sollte niemals den Teufel an die Wand malen.
    Es ist schön, schon in der Kindheit zu lernen, dass das Leben stets kleine Wunder bereithält, und diese Lektion wartete nun auf mich, denn Dagi stand plötzlich auf und gab mir ihren Blechteller mit der Hälfte des Kartoffelsalats und dem halben Würstchen.
    Nachdem ich alles aufgegessen hatte, nahm ich sie in die Arme, streichelte sie und sagte, dass ich sie nie wieder ärgern würde.
    Natürlich brach ich das Versprechen gleich, und vielleicht war das auch der Grund, dass der Teufel so eine große Teufelei auf Zernikow für uns bereithielt.
    Es war eher eine Haltestelle als ein Bahnhof. Tante Ulla holte uns ab. »Das lässt sie sich nicht nehmen«, hatte meine Mutter gesagt. »Sie kutschiert einen Sechsspänner besser als jeder Mann.«
    Meine Lieblingspferde waren schwarz, und ich war sofort sehr aufgeregt, als ich den Pferdeschlitten mit den zwei Rappen sah. Die Leine war festgezurrt und an der Querverstrebung verknotet, auf die Tante Ulla ihre Füße gestellt hatte. Als sie uns sah, sprang sie herunter und kam uns entgegen.
    »Da seid ihr ja!« Sie umarmte meine Mutter. Dann beugte sie sich zu Dagi herunter, gab ihr aber keinen Kuss, sondern packte sie und hielt sie hoch in die Luft, wobei sie sie hin und her schüttelte. Dagi riss ihre grün-braunen Augen weit auf und schnappte nach Luft. Als sie wieder auf den Füßen stand, fing sie an zu weinen.
    Tante Ulla gab mir die Hand und tätschelte meinen Kopf. »Du bist ja schon ein Mann, du weinst nicht«, sagte sie, ergriff die zwei großen Koffer, trug sie zur Kutsche und wuchtete sie hinten auf den Ständer, wo sie sie mit ein paar Griffen festschnallte. »Steigt schon mal ein, ich gebe den Pferden noch ein Zuckerli.«
    Seit ich die zwei Rappen gesehen hatte, war ich wie elektrisiert und fragte sofort, ob ich das machen dürfe.
    »Na, wenn du das kannst«, sagte Ulla, gab mir ein Zuckerstück, fasste das Pferd an der Trense und führte mit der anderen Hand meinen Arm.
    Ich konnte das, ich wollte ihre Hilfe nicht, zumal sie nicht die gleiche Wertschätzung für mich hatte wie Pauls Mutter und wie ich es mir wünschte. Im Gegenteil: Ich war so wütend, dass ich

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