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Die Maikaefer

Die Maikaefer

Titel: Die Maikaefer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Burkhard Driest
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versank ich erneut in totaler Angst. In einem meiner hochfliegenden Momente ließ ich mich vom Wagen fallen und krabbelte wie ein ins Wasser geworfener Hund los, um den Kopf aus dem Schnee zu kriegen und Elsbeth zu folgen.
    Kaum stand ich auf den Füßen und registrierte, dass mir der Schnee bis zum Bauch reichte, erfasste mich eine Bö und drückte mich mit dem Gesicht nach vorne in den Schnee. Alles erlosch in einem weißen Glimmen. Nichts war mehr bunt wie meine Hoffnungen und Wünsche und das Leben selbst, alles war kalt wie der Tod und stärker als ich. Ich wollte hier nicht bleiben, nicht für ewig und immer. Ich rappelte mich wieder auf und stemmte mich gegen den Wind. Es strengte mich so an, dass das Licht vor meinen Augen zu flimmern begann. Plötzlich färbten sich Flimmern und Funken dunkelgrau und verdichteten sich zu einem bewegten Schatten, der aussah wie eine Gestalt, die mir entgegen wehte. Ich wischte mir den Schnee aus den Augen. Manchmal war dieses schattenhafte Wesen näher, dann wieder war es in großer Ferne. Ich klammerte mich an meine Hoffnung und wollte unbedingt, dass es ein Mensch wäre. Kein Raubtier, kein Wolf oder Bär, die es hier in der Gegend auch gab. Wie eine Rauchsäule tanzte die Erscheinung über der wehenden Schneedecke der Straße auf mich zu. Drohend kam dieses in weißes Licht gehüllte Etwas näher, und mir fiel ein, was man bei einem wilden Tier, einem Keiler oder Bär tun musste: Nicht weglaufen, sondern beharrlich Schritt für Schritt rückwärts gehen. Die Gestalt hob die Arme. Bitte, nein! Ich schüttelte den Kopf, wobei die Tropfen von meinen Wimpern fielen.
    In dem Moment erkannte ich meine Mutter. Sie drückte mich fest an sich. Seligkeit und Wärme durchfluteten mich. Ihr Pelzmantel war voller Schnee, aber als ich ein Auge öffnete, sah ich ihren roten Schal, und als ich mir mit ihm das Gesicht trocknete, roch ich ihren Geruch. Sie packte mich am Handgelenk und zog mich in die Richtung, aus der sie gekommen war. Der Sturm schob uns von hinten, und so brauchten wir nicht lange, bis wir das Gut erreichten. Vielleicht war es auch lange, aber neben ihr zu gehen, schien mir wie eine endlose Seligkeit. Fünf Minuten oder zwei Stunden – für mich war die Seligkeit ewig.
    Während sie mir im Bad meine nassen Kleider vom Leib zog, erklärte sie mir, dass ich besser Bescheid gesagt hätte. »Ein Glück, dass dich der Schweizer Emil Riemer gesehen hat, sonst hätte ich nicht gewusst, wo ich dich suchen sollte«, sagte sie ohne einen Unterton von Vorwurf, Leid oder Klage. »Du legst dich ins Bett, um dich zu wärmen. Ich mach dir in der Küche eine heiße Brühe.«
    »Darf ich in dein Bett?«
    Sie erlaubte es, zog mir die Decke bis über die Schultern und kuschelte mich ein.
    »Ich bin gleich mit der Brühe zurück.«
    Um ihr nachzuschauen, drehte ich mich auf die Seite. Schnell ging sie hinaus, rhythmisch schwang ihr geblümtes Kleid, das sie heute Morgen – als letzten Gruß an den Sommer – angezogen hatte. Die Tür schlug zu. Ich schaute zu meiner Schwester.
    Sie hatte den Daumen im Mund und ihre grau-grünen Kulleraugen auf mich gerichtet.
    Hätte sie sich gefreut, wenn ich nicht wiedergekommen wäre? Weil sie dann an meiner Stelle gewesen wäre, mit all meinen Spielsachen?
    Ich stand auf, ging zu ihr, beugte mich über die Gitterschranke ihres Kinderbettes und streichelte sie. Nichts an ihr veränderte sich.
    Ich bückte mich, um ihr Gesicht zu sehen. Sie schaute mich nicht an, sondern schnurgeradeaus. Ich folgte dieser Blickrichtung und landete wieder auf meinem Platz im Bett. Sie schaute zu mir, schien aber, wie in einem zufriedenen Koma, nichts wahrzunehmen.

14. KAPITEL
    W
    ir hatten von Ulla Grisard einen Brief erhalten, in dem sie schrieb, dass ihr Bruder Otto, seine Frau Eva und Tante Kläre gut in Lüneburg angekommen waren. Im selben Brief lud sie uns auf ihr Gut nach Ostpommern zur Hochzeit ihrer Tochter Urte ein. Ich freute mich, denn Zernikow war ebenso groß wie Drewitz und hatte genauso viele Tiere, vielleicht sogar noch mehr. Ich kannte es bereits, und jedes Mal, wenn wir da gewesen waren, hatte ich viel Spaß gehabt, weil die Prüfungen für mich dort gelegentlich schwieriger waren als auf Drewitz.
    Nach Zernikow war es eine Bahnreise, bei der ich mich am meisten auf das Picknick freute, das meine Mutter eingepackt hatte: Kartoffelsalat mit Würstchen. Ich wollte auch gleich wissen, wann wir essen würden. Meine Mutter ließ sich nicht festlegen und

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