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Die Maikaefer

Die Maikaefer

Titel: Die Maikaefer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Burkhard Driest
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mich extra meinen schwarzen Anzug, schwarze Halbschuhe, ein weißes Hemd und von meinem Vater eine Fliege mitgenommen, die von einem Gummiband gehalten wurde. Für Dagi hatte sie ein weißes Kleid im Koffer und schwarze Lackschuhe. In ihre Zöpfe band sie weiße Schleifen.
    Als wir in den Speisesaal kamen, war ich erstaunt über die lange Tafel. Noch nie zuvor hatte ich so viele Menschen an einem Tisch gesehen. Wie sollte da der Schokopudding reichen? Meine Mutter, Dagi und ich nahmen am unteren Ende der Tafel Platz, also nahe der Tür, durch die wir eingetreten waren. Das hatte vorher Tante Ulla alles arrangiert, denn vor jedem Teller stand ein Namensschild. Nicht alle Männer trugen Schwarz, nicht alle Frauen und Mädchen Weiß, aber die meisten hatten versucht, dieser Kleiderregel zu folgen. Ich war den ganzen Tag rodeln gewesen, hatte einen Riesenhunger und konnte kaum erwarten, dass mit dem Essen begonnen wurde. Seltsamerweise kann ich mich nicht mehr erinnern, was es zu essen gab. Vollkommen verschwunden auch, was Tante Ulla oder Onkel Christoph in ihren Reden sagten. Das Dessert, Schokoladenpudding mit Vanillesoße, behielt ich in Erinnerung, weil es mich schon vorher so intensiv beschäftigt hatte. Ich war vollkommen von der Befürchtung beherrscht, mit der einen Portion, die jedem zustand, meine Gier nicht stillen zu können. Deswegen war es meine Taktik, schon möglichst viel von allem zu essen, was vor dem Schokoladenpudding serviert wurde. Ich hatte mir vorgenommen, nicht nur satt zu werden, sondern übersatt, sodass schließlich beim Schokoladenpudding nicht einmal ein Hauch von Hunger übrig sein würde und meine ganze Aufmerksamkeit nicht dem Stillen des Hungers, sondern dem Genießen gälte und ich die Speise sowie auch die Vanillesoße in einem sehr, sehr langsamen Tempo verzehren würde, ein Tempo, bei dem die Zunge für Sekunden still stünde und die Lamellen wie pumpende Maikäfer auf der Stelle stehend, alles einsaugen würden, was um sie herum wäre. Auf diese Weise würden sie sich voll tanken mit jedem delikaten Geschmacksmolekül, sodass sich das Einnehmen des Nachtisches auf jeden Fall über eine Viertelstunde oder mehr ausdehnen ließe. Ja, darum ging es mir bei Urte Grisards Polterabendmahl – den Himmel für eine Viertelstunde auf meiner Zunge zu haben. Jetzt fällt es mir auch wieder ein: Der zweite Hauptgang nach den Hechtröllchen waren Hirschmedaillons mit Preiselbeeren. Ich befürchtete nämlich, dass der süße Geschmack der Beeren die etwas bittere Süße der Schokoladenspeise eintrüben könnte, aber dann wurde mir klar, dass der vollkommen entspannte Genuss auch die vorher erreichte Befriedigung der Zuckergier voraussetzte. Dennoch akzentuierte ich den Abschluss des Hauptgerichtes mit einer Prise Salz. Als ich diesen Punkt erreicht hatte, musste ich mich noch ein wenig gedulden, bevor die Schüsseln mit dem Schokoladenpudding zu kreisen begannen. Trotz all dieser Vorbereitungen spürte ich meine Ungeduld, wenn jemand sich zu langsam auftat oder überhaupt innehielt, um mit seinem Nachbarn irgendwelche Belanglosigkeiten auszutauschen, bevor er den silbernen Schöpflöffel zurücklegte und die Schüssel an die nächste Person weiterreichte.
    Zwei waren noch vor mir dran, als das Unglaubliche passierte. Jemand riss hinter mir die Tür auf und brüllte: »Die Russen kommen!«
     
    Als wäre der Teufel in die Gäste gefahren, sprangen sie auf, stürzten zur Tür, rissen das Tischtuch mit, Karaffen und Gläser stürzten um, Schüssel und Teller zerschellten an der Erde, ein Topf Vanillesoße goss sich vor mir aus. Als meine Mutter mich packte, starrte ich noch ungläubig auf den Schokoladenpudding, aber sie zerrte an mir, mir ins Ohr schreiend: »Wir müssen hier weg!« Offenbar wusste sie genau, was zu tun war, denn sie schleppte Dagi und mich je an einer Hand hinter sich her, hinauf in den ersten Stock, hatte sofort die nötigsten Sachen aufs Bett geworfen und feuerte uns an, alles anzuziehen, was dort lag. Nachdem das geschehen war, was ihr viel zu langsam ging, trieb sie uns die Treppe hinunter auf den Hof, die Gutsallee entlang bis zum Hühnerstall. Dort mussten wir hinein, die Hühner flatterten auf, kreischten und gackerten, konnten aber nicht hinaus und mussten sich wieder beruhigen, nachdem wir uns ein Strohlager unter den Sitzstangen zusammen geschoben hatten, auf denen sie über uns hockten und vor Aufregung auf uns herunter kackten.
    »Dies ist unser Versteck, hier bleiben

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