Die Maikaefer
Fahrt unterhielt.
Ich vermutete, sie hoffte darauf, dass ein oder zwei von ihnen absteigen würden, um für sie und mich Platz zu machen, aber das taten sie nicht, sondern vertrösteten sie damit, dass bald ein Güterbahnhof komme, der an einer Strecke liege, wo Züge noch verkehrten.
Ich hatte meinen Blick nach unten gerichtet und trabte gleichmäßig voran, wobei ich vor mich hin brummte, um nicht so schnell aufzugeben. Das ging auch sehr gut, ich schlief fast dabei ein, ohne langsamer zu werden. Irgendwann rief meine Mutter meinen Namen, und weil ich nicht hörte, rief sie sehr laut noch einmal. Ich blieb stehen und schaute um mich. Wir waren in einer Ortschaft, sie hatte Dagi auf dem Arm und an uns vorbei zog die Karawane.
»Komm«, sagte sie, »hier geht es zum Güterbahnhof.«
Sie bog in eine Seitenstraße ein, ich folgte ihr langsam, weil meine Beine inzwischen bleischwer waren. Am liebsten hätte ich mich in den Schnee gelegt, um zu schlafen, aber sie trieb mich an und meinte, es sei nicht mehr weit, dann hätten wir einen Zug und ich könnte schlafen.
Als wir an der Bahnstrecke ankamen, stand dort tatsächlich ein Güterzug, dessen Schiebetüren weit geöffnet waren. Er war schon voll, der Einstieg sehr hoch, und ich dachte, die Leute würden uns nicht mehr helfen, auf das Trittbrett zu kommen.
Ohne Zögern hielt meine Mutter Dagi einem Soldaten hin, der in der Mitte des Eingangs saß. Er nahm sie an und stellte sie hinter sich. Dann half er meiner Mutter und zum Schluss mir. Meine Mutter schob uns weiter hinein in den Wagen und verhandelte mit zwei Frauen, die dann erlaubten, dass Dagi und ich uns auf ihre Koffer setzten. Meine Mutter unterhielt sich mit ihnen, und sie erzählten, dass sie sich aus einem anderen Zug gerettet hatten, der unter Beschuss geraten war.
Unser Zug fuhr nicht. Ich hörte in der Ferne eine Knallerei und jemand sagte, das sei Gefechtslärm. Meine Mutter fragte die Frauen, was sie davon hielten, und sie sprachen eine Weile über verschiedene Orte, die bereits von Russen angegriffen worden waren. Ich hatte den Eindruck, dass der Angriff auf den Zug der beiden Frauen sehr viel weiter östlich gewesen sein müsste.
Plötzlich knallten die Schiebetüren zu und es wurde dunkel. Meine Mutter protestierte laut dagegen, dass die Türen von außen verriegelt wurden, aber da ruckte der Zug schon an. Für eine Weile war es still, dann sagte eine der beiden Frauen: »Heute ist der Gedenktag.«
»Woran willst du denken?«, fragte die andere.
»Heute ist der 30. Januar.«
»Heute ist Dienstag, mehr nicht«, sagte meine Mutter. »Aber Sie haben Recht, eigentlich müssten wir heute auf dem Naugarder Marktplatz zu einer Feier antreten.«
»Große Jubelfeier. Was wollen wir bejubeln? Den Einmarsch der Russen?«
»Ich frag mich bloß«, sagte die Erste, »ob sie in Berlin heute feiern. Möglich ist ja alles.«
Irgendjemand, der durch einen Spalt hinaussehen konnte, rief aufgeregt in den Wagen, dass wir uns auf der falschen Strecke befänden. Sie führe nach Süden und würde uns direkt vor die Rohre der russischen Kanonen bringen.
Während vorher alle stumm und steif dagestanden hatten, redeten sie jetzt plötzlich erschreckt durcheinander.
Jemand erklärte, die deutsche Heeresleitung habe sich schwer verrechnet, der Ostwall sei vollkommen sinnlos, weil die Russen im Süden vorstießen und die deutsche Front nach Norden hin aufrollten.
»Die Russen haben Schneidemühl mit ihrer Panzerspitze schon südlich umfasst, die haben’s auf die Ostbahn abgesehen. Wenn die Strecke unterbrochen ist, gibt’s kein Entkommen mehr nach Westen!«, rief ein anderer.
Der Zug fuhr noch eine Weile, während das Gedonnere in der Ferne immer lauter wurde und die Stimmen in unserem Waggon immer klagender.
Dagi weinte. Ich nahm sie in den Arm und streichelte sie. Sie ließ es sich gefallen, offenbar beruhigte es sie, doch als das Blaffen der Kanonen lauter wurde und wir mit einem Ruck von den Koffern kippten, begann sie ganz erbärmlich zu zittern und zu weinen. Eine Stimme brüllte »Hinlegen!«, aber wir lagen schon. Es roch nach verbranntem Holz. Der Zug führ nicht mehr, und eine Frau schrie hysterisch: »Wir sind getroffen!«
Alle wollten jetzt raus aus dem Waggon, schoben und drängten zu den Türen, die sich jedoch von innen nicht öffnen ließen. Unter dem Dach gab es ein paar Luken, die aufgeschoben werden konnten und groß genug für einen Mann waren, um sich hindurchzuzwängen. Allerdings musste
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