Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Maikaefer

Die Maikaefer

Titel: Die Maikaefer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Burkhard Driest
Vom Netzwerk:
mich überall verteidigt.
    So marschierten Rex und ich täglich die Karawane auf und ab, die quer durch die Stadt ging. Immer nachmittags, weil wir am Ende diejenigen bestimmten, die wir über Nacht beherbergen wollten. Zwar wohnten wir nicht an der Hauptstraße und bei uns kamen auch nicht häufig Bittsteller vorbei, doch meine Mutter meinte, in dieser Situation müsse jeder helfen.
    Für meine Wanderungen mit Rex hatte sie mir noch aufgetragen, bei den Flüchtlingen herumzufragen, woher sie kamen und ob jemand das Rittergut Zernikow kenne. Vielleicht würden wir etwas über das Schicksal der Grisards erfahren.
    Mit Rex war das einfach, denn die meisten hatten auch einen Hund, und alle wollten wissen, wie er hieß, woher ich ihn hatte und ob es ein reinrassiger Schäferhund war. Viele kamen aus Danzig oder Königsberg, aber niemand aus der Gegend von Zernikow. Eines Nachmittags aber, als ziemlich viel Schnee fiel, sah ich einen Schlitten, der mir bekannt vorkam. Alles war von einer großen Plane überdeckt, und als ich mich näherte, hörte ich ein Klingeln, das mich an irgendetwas erinnerte. Ich ging zu den Pferden, um sie zu streicheln, und sofort kam die Stimme von dem Fuhrmann, der auf der Kutschbank saß: »Hände weg!« Auch die Stimme war mir nicht fremd, und ich erkannte Reese, Tante Ullas Kutscher.
    Ich ging zu ihm und sagte »Guten Tag.« Er blickte auf mich herunter und erwiderte nichts.
    »Erkennen Sie mich nicht wieder? Ich hab schon bei Ihnen auf dem Wagen gesessen.«
    Er schaute mich an, schwieg aber weiter.
    So war es aussichtslos, ich musste irgendwie anders anfangen. »Meine Mutter, meine Schwester und ich waren auf der Hochzeit von Urte in Zernikow, aber dann kamen die Russen. Meine Mutter möchte wissen, wo die Familie Grisard jetzt ist.«
    »Die sind alle tot«, sagte er und schlug einmal mit der Leine auf die Pferde, weil der Treck ein Stück voran rückte. Rex wollte woanders hin, aber ich hielt ihn am Halsband fest, und wir gingen mit dem Wagen ein Stück mit.
    »Sie können heute bei uns übernachten«, sagte ich so laut wie möglich.
    »Ich muss weiter. Meine Frau ist hinten drauf, die ist krank.«
    Sie konnte ich nicht sehen, weil alles von der Plane überdeckt war. »Wie sind Grisards gestorben?«
    »Schlimm. Ganz schlimm.« Er trieb die Pferde wieder ein Stück voran.
    »Was kann ich meiner Mutter sagen?«
    Er wandte den Kopf und betrachtete mich von oben, als versuchte er, mich zu erkennen. Dann sagte er in seiner groben Art: »Nichts. Die weckt keiner mehr auf. Da hilft auch drüber reden nichts.«
    Rex zog an mir, ich blieb stehen und ließ den Wagen weiterfahren. Dann erschien sein Kopf noch einmal hinter der Plane, und er rief: »Sag deiner Mutter, da ist nichts mehr übrig geblieben! Da stehen nur noch die Grundmauern!« – Dann verschwand sein Kopf, und ein kleines Mädchen, das in eine Decke eingewickelt war, wollte von mir wissen, wie mein Hund heiße.
    »Rex!«, sagte ich, und Tränen kamen mir, als ich an Tante Ulla dachte, wie sie mit Mama das Lied vom Winter sang, und wie Urte an meinem Bett so glücklich den Ablauf ihrer Hochzeit schilderte.
    Als ich Mama die Nachricht überbrachte, hielt sie mich so lange und fest im Arm, dass ich dachte, sie würde mich nie wieder loslassen.
     
    An nächsten Morgen fütterte ich die Gänse und die Kaninchen, mit denen ich danach immer eine Weile spielte, streichelte und liebkoste Blanche und ging anschließend zu Paul. Am Ende des Monats war er mit allen Schlachten durch gewesen, die er durch seine Tante in Berlin erfahren hatte, und fing wieder von vorne an. Das bedeutete, dass Irmchen und ich deutsche Gebiete zu besetzen hatten und die dort lebenden Deutschen quälen, einsperren oder umbringen mussten. Weder Irmchen noch mir machte es Spaß, doch Paul brachte uns jeden Tag wieder aufs Neue dazu, mit ihm zu spielen, weil er uns lobte und uns schlaue Komplimente machte. Mir sagte er zum Beispiel, dass ich eigentlich schon sechs sei, Blanche das schönste Kaninchen der Welt und Rex ein reinrassiger deutscher Schäferhund, der, mir treu ergeben, mich immer beschützen würde. Irmchen lobte er dafür, dass sie nicht nur mit den blöden Puppen spielte, sondern durch die Schlachten schon verdammt genau begriff, wie es in der wirklichen Welt zugehe. »Leben heißt Kampf!«, rief er ihr zu. »Du wirst eine der wenigen Frauen sein, die ihre eigene Familie immer rettet.« Er hatte einmal Muckchen nach ihrer Ankunft kennengelernt, als sie uns

Weitere Kostenlose Bücher