Die Maikaefer
bewegte. Alles an Eule war blutig und schlaff. Mir schwindelte, die Flasche rutschte mir aus der Hand.
Elsbeth kreischte und beschimpfte die Russen.
Iwan gefiel das. Er lachte und befahl etwas seinem Kollegen. Beide packten sie und rissen so lange an ihren Kleidern herum, bis sie nichts mehr anhatte. Vor mir lag die Flasche, aus der die meiste Flüssigkeit ausgelaufen war. Ich dachte an aufwischen, blickte umher, suchte ein Tuch und stellte fest, dass ich in der offenen Tür gegen den Türrahmen gelehnt war. Ich hätte weggehen können, aber meine Knie waren zu wackelig.
Ich war machtlos und die beiden Russen viel zu stark. Ich erinnerte mich an meine Fahrt mit Elsbeth durch den Schneesturm und wie schlimm es gewesen war, alleine zu sein, nachdem sie davon geritten war. Wie traurig ich mich gefühlt hatte, so verlassen zu sein. Immer wieder schwor ich damals, das nicht zu tun, ihr das nicht anzutun, ich würde sie nie alleine lassen. Später hatte ich es mir vor dem Einschlafen oft wiederholt. Dies alles kochte in mir. Ich weiß nicht, ob ich zu Elsbeth schaute, sie die ganze Zeit ansah und alles in mich eindrang, was mit ihr geschah. Oder ob ich mit offenen Augen nichts mehr sah. Die Flüssigkeit aus der Flasche floss langsam auf mich zu. Die Geräusche, denen ich mich nicht entziehen konnte, waren schrecklich. Furcht erfüllte mich.
Ich stand da wie erstarrt. Doch meine Gefühle waren in Aufruhr. Ich hörte nur mein Atmen. Die Lähmung nahm ab, verwandelte sich in Angst, die Angst wurde weniger, ich spürte Wärme in meinen Wangen und rannte davon.
Ich rannte ins Gutshaus, um Hilfe zu holen. Auf dem Flur vor unserem Zimmer standen zwei russische Offiziere in sauberer Uniform und gaben Rübezahl Anweisungen. Ich weiß nicht, was sie sagten, denn Soldaten geben immer Anweisungen oder kriegen welche. Ich ging an unserer Zimmertür vorbei, wagte aber nicht, die Küche zu betreten. Rübezahl stand in der Tür, und ich hätte an ihm vorüber gemusst. Was sollte ich auch in der Küche?
Ich wusste nicht, wie ich Elsbeth helfen konnte. Hilfe wollte ich holen, deswegen war ich losgelaufen, und nun stand ich auf dem dunklen Flur zwischen Rübezahl und den beiden Offizieren, ratlos, unwissend, ein Kind, das plötzlich alles Starke und Männliche in sich verloren hat.
Einer der Offiziere drehte sich um, musterte mich einen Augenblick lang und machte ein Zeichen, ich solle zu ihm kommen. Ich rührte mich nicht, denn in diesem Moment durchlief mich so etwas wie Schüttelfrost und Tränen rannen mir in dicken Bächen über die Wangen. Soldaten weinen nicht, dachte ich. Sie mögen keine Menschen, die weinen. So könnte ich Elsbeth nicht von Nutzen sein.
Der Offizier kam und fragte mich, warum ich weinte. Er war schlank und hoch gewachsen, Mitte oder Ende zwanzig, sein locker sitzendes Offiziershemd war in der Taille durch einen Lederkoppel zusammengerafft. Russenkittel – dies Wort stand mir plötzlich in verschiedenen Farben vor Augen. Hatte ich bislang nur Rotarmisten in abgetragenen und meist verdreckten graubraunen Hosen gesehen, fielen mir bei diesem Offizier seine gepflegten Breeches auf, die in schwarzen und polierten Reitstiefeln steckten. Welch ein Unterschied zu den schmutzigen Stiefeln der einfachen Soldaten, und nicht einmal jeder von ihnen besaß welche. Manch einer musste sich mit Fußlappen begnügen, und daher waren deutsche Männerstiefel bei ihnen äußerst begehrt. Ein anderer Unterschied zum Fußvolk der russischen Soldateska fiel mir noch auf: die steife Schirmmütze mit Sowjetstern, unter der dunkelbraunes Haar hervorquoll, während die einfachen Soldaten alle kurz geschoren waren und Pelzmützen oder Käppis trugen. All dies nahm ich schnell auf und versuchte darin ein Zeichen zu entdecken, ob er mir würde helfen können oder nicht. Er sprach Deutsch mit einem angenehmen Akzent und fragte mich noch einmal, wobei er einen seltsamen Ausdruck benutzte. »Was betrübt dich, mein Kind?« Betrüben verstand ich nicht, von Trübsal wusste ich noch nichts, aber ich erzählte ihm unter heftigem Schluchzen von Eule und seiner Mutter. Diese Schilderung nahm eine Weile in Anspruch, weil jedes meiner Worte von meinen Schluchzern zerrissen wurde, doch er blieb geduldig. Schließlich war ich am Ende, und ohne, dass er zu erkennen gab, ob er mich verstanden hatte, sagte er etwas auf Russisch zu dem anderen Offizier. Dann forderte er mich auf, ihnen zu zeigen, wo das passiert war.
Sein Kollege befahl Rübezahl
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