Die Maikaefer
auf dem Friedhof angefangen, wo die Gefallenen beerdigt worden waren oder wenigstens ein Kreuz stand, wenn nichts mehr von ihnen übrig geblieben war. Hotte wusste immer alles und war ein umsichtiger Chronist des Gutes geworden. Unsere Runden waren jedes Mal eine spannende Unternehmung gewesen und hatten mir Spaß gemacht. Warum sollte es diesmal nicht so sein? Vielleicht sogar noch spannender.
Hotte war in der Schmiede und gerade fertig mit dem Beschlagen »eines russischen Zossen«, wie er sagte. Das Pferd erschien mir sofort viel zu gut für einen Russen, und auf den zweiten Blick erkannte ich Hänsel. »Das ist eines von Elsbeths Milchpferden«, sagte ich mit wütendem Protest in meiner Stimme, so als würde sie dadurch das Pferd zurückbekommen.
»Ich hab’s von dem russischen Feldwebel, dem mit der Warze an der Stirn. Da muss ich’s auch abliefern.«
Der mit der Warze an der Stirn war Rübezahl. Gut, dass ich das wusste, ich würde es Elsbeth sofort berichten. Ich würde es Rübezahl nachts klauen, wenn sie das wollte, und ihr zurückbringen. Das schwor ich innerlich.
Hotte brachte das Pferd hinüber in den Stall, wo der Bursche von Rübezahl es ihm abnahm. Ich merkte mir genau, in welche Box er es führte, und dann sausten Hotte und ich ab auf unsere Runde.
Zuerst schlichen wir im Herrenhaus herum, um zu sehen, wer sich dort noch befand.
Das Schloss, wie Hotte es nannte, war ziemlich verwüstet. Die Schränke standen offen, die Schubladen in den Zimmern waren herausgerissen und der Inhalt überall verstreut. Von den Gardinen hingen nur noch Fetzen herunter, Flüssigkeiten waren auf dem Boden ausgeschüttet, und auf manchen der teuren Teppiche waren Scheißhaufen, sodass wir nicht nur wegen der Scherben, die durch die Schuhsohlen schnitten, aufpassen mussten, sondern auch wegen der Scheiße. Von den ostpreußischen Flüchtlingen im ersten und zweiten Geschoss war niemand mehr da. »Sie haben sie entweder verschleppt oder umgebracht«, sagte Hotte.
»Wenn sie tot sind –«, wollte ich einwenden, aber er schnitt mir das Wort ab.
»Vielleicht finden wir sie im Wald oder in einer Grube auf einem Feld.«
»Auch Onkel Albi?« Das konnte ich nicht glauben.
»Hier oben ist keiner«, sagte er, »aber wenn wir hier einen Russki beim Klauen erwischen, knallt er uns ab.«
»Onkel Albi und Tante Sissi sind hier«, sagte ich und war nicht bereit, die Suche aufzugeben.
»Woher weißt du das?«
»Meine Mutter hat gesagt, sie hätten es ihr gesagt, wenn sie getürmt wären.«
»Können ja bei den anderen sein«, antwortete Hotte und machte keinen Schritt weiter.
»Nein. Sie waren heute Morgen nicht auf dem Hof dabei. Im Backhaus auch nicht, in der Küche auch nicht.«
»Vielleicht verstecken sie sich genauso gut wie deine Mutter.« Er schaute mich an. »Dann finden wir sie nie.« Das sagte er für mich zur Beruhigung, und ich war ihm dankbar dafür.
Er merkte das und sagte: »Aber die Russen.«
Jetzt hatte er es mit mir verdorben. Ich ging auf ihn zu und boxte ihm mit beiden Fäusten gegen die Brust, wobei ich immerzu wiederholte: »Du sollst das nicht sagen … du sollst das nicht sagen …!«
Er grinste verlegen, was ich sonst lustig fand, weil ihm vorne am Schneidezahn eine Ecke fehlte. Eigentlich hätten ihn die Kinder deswegen und wegen der unterschiedlichen Farbe seiner Augen immer gehänselt, aber niemand wagte das, weil er so stark war. Es war riskant, gegen ihn zu boxen, auch wenn meine Schläge ihm wegen seines dicken Soldatenmantels nichts ausmachten. Schließlich packte er meine Handgelenke, beugte sich etwas vor, um mir richtig in die Augen zu starren, und sagte leise: »Ist gut, du gehst vor, ich bleibe hinter dir, und wenn etwas passiert, helfe ich dir, aber du gehst als Erster.«
Ich war einigermaßen besänftigt, machte mich los und ging voran.
Wir waren im zweiten Stock, und ich schaute noch einmal in alle Zimmer, dann ging ich zu der Tür, hinter der die Treppe zum Dachboden führte. Sie war nicht verschlossen, und ich stieg die knarrenden Stufen hinauf. Auf der einen Seite reihten sich fünf schmale Zimmer aneinander, die Mädchenzimmer, in denen das weibliche Personal untergebracht wurde, das bei der Ernte zur Aushilfe kam. Ich schaute überall hinein, doch in den Räumen mit den doppelstöckigen Betten befand sich niemand, und immer mehr quälte mich die Frage, wo Onkel Albi und Tante Sissi sein könnten. Gestern, als die Russen kamen, hatte Onkel Albi mit seiner Waffe noch die
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