Die Malerin von Fontainebleau
stellte sich neben ihren Beschützer und konnte jetzt gerade noch das Dach des roten Baldachins sehen. Je näher sie der Bühne kamen, desto deutlicher wurde die Stimme des Mönchs, der die Anklagen der Verurteilten auf Latein vorlas, gespickt mit Zitaten aus der Bibel und den Kirchenvätern. Wie mussten
sich Häftlinge fühlen, die nicht einmal wussten, warum sie sterben sollten?
Eine Frau ermahnte ihren Sohn: »Die Leute haben Böses getan, deshalb werden sie jetzt verbrannt. Sie haben der Heiligen Gottesmutter Schande gemacht und kommen dafür ins ewige Höllenfeuer. Dahin kommen alle, die dem Priester nicht folgen, hörst du!«
Der Vater des Jungen hob seinen Sohn auf die Schultern. »Sieh genau hin!«
»Wie lange dauert es denn noch, bis sie die Scheiterhaufen anzünden?«, maulte der Junge.
»Alles der Reihe nach. Sie sind erst bei der Frau mit den roten Haaren, der Hexe. Hier, nimm von den Mandeln!« Er drückte seinem Sohn Süßigkeiten in die Hand, die er bei einem der vielen fliegenden Händlern gekauft hatte.
Angewidert wandte Luisa sich ab und flüsterte: »Ich kann nicht allein nach vorn gehen, Gé rard. Ich schaffe das nicht!«
»Wie saßen die Angeklagten?«, fragte Gé rard leise.
»Was?«
»In welcher Reihenfolge sie saßen. Sie sitzen doch auf den Schandbänken, nicht in Käfigen, oder?«
»Nein! In Käfigen?«
»Das machen sie oft so, vor allem in Spanien. Später, Luca. Später erzähle ich Euch, warum ich so viel über die spanische Inquisition weiß. Also, wo sitzt Euer Bruder? Vor der, welche sie die Hexe nennen, oder dahinter?«
Endlich begriff sie. »Er sitzt ganz am Ende, das neben ihm muss Sidrac sein, der Prediger, und die Frau vor ihnen Isabeau.« Der Anblick der zierlichen, von der Folter gezeichneten Frau war ihr durch und durch gegangen. Von Armido hatte sie nicht viel sehen können, und vielleicht war das gut so. Immer wieder musste sie sich zur Ruhe ermahnen. In jedem Soldaten, jedem Büttel, jedem Gerichtsdiener, der
sie mit Blicken streifte, meinte sie einen Feind zu entdecken. Was, wenn Mallêt ihr doch gefolgt war? Vielleicht wollte er sichergehen, dass Armido und die anderen tatsächlich getötet wurden? In der Vergangenheit hatte es oft genug weltliche Gerichte gegeben, die sich geweigert hatten, die von der Inquisition geforderte Todesstrafe durchzuführen.
»Hört Ihr mir überhaupt zu? Ich sagte, dass es noch eine Weile dauern wird mit dem Verlesen der Klageschriften.« Gérard schüttelte ihren Arm. »Ihr seid wirklich nur Haut und Knochen«, bemerkte er.
»Ich dachte nur, dass der prévôt , oder wer hier gerade Richter ist, die Todesstrafe vielleicht ablehnt. Das wäre möglich.«
»Möglich wohl. Immerhin hatte Franz die Kirche von Frankreich nach dem Sieg von Marignano gezwungen, sich ihm unterzuordnen. Aber die Zeiten haben sich wieder geändert. Schaut mal nach links.«
Sie folgte seinem Blick, konnte aber außer der Menschenmenge und Pfeilern, die aus der zweiten Bühne ragten, nichts Auffälliges entdecken.
»Die Pfähle!«
»Auf der Bühne?«
»Drei Stück, für jeden einen«, fügte Gérard bitter hinzu.
Sie kletterte auf ihr Pferd und erkannte, was Gérard meinte. Was sie für eine zweite Bühne gehalten hatte, war nichts anderes als das Schafott! Drei Pfähle waren in genügendem Abstand voneinander aufgebaut, so dass für die Haufen aus Reisig und Holz, die in Brand gesteckt werden sollten, Platz blieb. Sie ließ sich langsam vom Sattel gleiten und klammerte sich an den warmen Pferdeleib.
»Es ist beschlossene Sache«, flüsterte sie. »Ich muss jetzt nach vorn und diesem Wahnsinn ein Ende setzen!« Sie war drauf und dran, Gérard und die Pferde stehen zu lassen, um sich allein durch die lauter werdende Menge zu kämpfen.
»Die Soldaten werden Euch nicht durchlassen. Und bis Ihr auf dem Podest seid, ist Euer Bruder womöglich schon tot. Wir müssen die Soldaten von der Ehrentribüne ablenken, damit Ihr hinaufklettern könnt. Wenn Ihr der Menge dann das Schreiben hinhaltet, muss man Euch hören. Das sind Hunderte von Zeugen.«
»Aber wie?« Ratlos sah sie auf die vor ihr stehenden Gaffer, die ungeduldig Schmährufe ausstießen und auf den Vollzug der Strafe drängten. Blutrünstige Aasgeier, dachte sie, die vergaßen, dass morgen vielleicht einer von ihnen dort oben auf sein Urteil wartete.
»Los jetzt! Wenn alles gut geht, treffen wir uns unten am Fluss«, sagte Gé rard zu ihr.
Händler und Schaulustige drängten sich um die Kathedrale
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