Die Manon Lescaut von Turdej (German Edition)
gemacht.
»Ich habe nur dich allein geliebt und werde dich mein ganzes Leben lang lieben!« sagte Vera.
Ich bekam Atemnot. Veras Haare klebten an meinen Lippen. Sie erschien mir wieder erwachsen und streng.
»Erzähl mir von deiner Familie«, bat ich.
Heute denke ich, daß Vera in dieser Erzählung besser zu erkennen ist als in ihren eigenen Bruchstücken und Scherben. Nach und nach, über mehrere Nächte, erzählte sie mir folgendes:
Veras Großmutter war ein Bauernmädchen aus einem Dorf in der Nähe von Jaroslawl. Als sie vierzehn war, wurde sie im Wald von einem unbekannten Offizier vergewaltigt. Sie gebar Veras Mutter.
Mit einem unehelichen Kind konnte man im Dorf nicht leben. Die Großmutter (sie hieß Katja) zog nach Petersburg und ließ das Kind bei einer Tante, einem Krämerweib, das böse und geizig war. Das Mädchen war unglücklich. Katja selbst wurde, soweit ich das verstanden habe, so etwas wie eine Varietésängerin und offenbar von Mann zu Mann gereicht. Das Schicksal der russischen Grisette ist bekannt. Mit Anfang Vierzig, zu einer Zeit, an die Vera sich schon erinnern konnte, starb sie in einem Krankenhaus an Schwindsucht, verlassen von ihrem letzten Liebhaber, irgendeinem Studenten. Vor ihrem Tod sang sie so, daß man es im ganzen Krankenzimmer hören konnte, mit junger und klangvoller Stimme. Vera war ihr Morgenrock mit breiten Schlitzen in den Ärmeln in Erinnerung geblieben. Wenn die Großmutter im Liegen ihre Arme hinter dem Kopf verschränkte, öffneten sich die Ärmel wie Flügel.
Das Schicksal der Mutter ist einfacher. Nach einer langweiligen und armen Kindheit bei der Krämertante ist sie irgendwie in die Stadt gekommen, ging irgendwo zur Schule (das war in den ersten Jahren der Revolution), arbeitete in einer Tabakfabrik, wurde danach Telefonfräulein. Sie hatte möglicherweise kein musisches Wesen, aber alle anderen Merkmale der Grisette, insbesondere das schwache Herz. Flüchtig taucht hier ihr erster Mann auf – Veras Vater. Er ist offenbar irgendwie vorübergegangen, am Leben seiner Frau und seiner Tochter vorbei, ohne eine Familie aufzubauen, ohne irgendeinen Abdruck zu hinterlassen. Überhaupt ist ein Vater für Vera irgendwie untypisch; ihr Stammbaum wächst nur über die weibliche Linie, in einer Dynastie russischer Grisetten, die Vera abschließt und auf eine neue Stufe bringt. Den Vater, Aleksej Iwanowitch Isajew, einen ehemaligen Unteroffizier aus dem Ersten Weltkrieg, Juwelier von Beruf, stelle ich mir als einen starken, nicht mehr jungen, schweigsamen, sogar etwas finsteren Mann vor, der zu großen Gefühlen fähig war. Er war unglücklich. Vera vermochte nichts über ihn zu erzählen. Sie erinnerte sich nur, daß er, als die Mutter angefangen hatte, sich mit anderen Männern zu treffen, zum Trinker wurde, sich einige Male wutentbrannt auf seine Frau stürzte, sie aber nie schlug. Er starb irgendwie unerwartet, gleichsam um Platz für andere zu machen. Sein Auftritt hatte sich als unbedeutend und sehr kurz erwiesen.
Auf ihn folgten andere. Vera zählte sie aus töchterlicher Pietät nicht auf. Sie erwähnte lediglich der Exotik wegen einen Schwarzen aus einer Jazzband. Die Mutter schrieb Tagebuch, und Vera las es heimlich.
Der zweite Mann, ein Jüngling, irgendein Buchhalter, adoptierte Vera. Die Mutter und er waren inzwischen wieder geschieden.
»Weißt du«, sagte Vera, »er ist so jung. Für mich wäre es schrecklich gewesen, wenn er sich in mich verliebt hätte.«
Am Morgen war das Haus ausgekühlt. Es wurde langsam, fast sparsam hell. Vera wurde wieder zum ranken Mädchen und schlief auf meiner Schulter ein. Sogar im Schlaf verschwand der Ausdruck von Unrast nicht von ihrem Gesicht.
XXIII. Tagsüber erinnerte ich mich nicht an die nächtlichen Gespräche. Sie verschwanden irgendwie von selbst, zusammen mit allem, was ich früher gewußt und woran ich mich früher erinnert hatte. Mir schien, daß nur das auf der Welt möglich war, was es um mich herum gab – nämlich die Liebe, die Holzhütte mit Strohdach und die schneebedeckten Hügel von Turdej, die irgendwo mit dem Himmel verschmolzen.
Ich stand früher auf als alle anderen. Der Junge und Anna lagen still auf dem Ofen. Vera schlief noch. Ich ging zum Dorfrand. Der Morgen war kalt und neblig. Die silbernen Röhrchen von bereiftem Stroh lagen auf dem Dach. Alle Grashalme, Sträucher und fernen Bäume standen weiß, von Rauhreif bedeckt.
Es war leise und leer. Ich hatte Angst, einzuatmen und diese Stille
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