Die Manon Lescaut von Turdej (German Edition)
Siedlung ist ziemlich unübersichtlich, keine Straßen, keine Ordnung, alles verläuft chaotisch von Hügel zu Hügel«, sagte ich.
»Uns bleiben hier nur noch drei Tage zusammen«, antwortete Vera.
»Weißt du, Verotschka, nach unserem Leben in Turdej bin ich noch gar nicht zur Besinnung gekommen. Die Reise, die Steppe, der Wind, all das ist wie ein Stillstand, als sei die Zeit vor einem Ereignis stehengeblieben«, sagte ich.
»Dieses Ereignis ist deine Abreise«, antwortete Vera.
»Ganz und gar nicht. Wir trennen uns doch nicht für ein Jahrhundert. Ich werde in der Nähe sein und dich gewiß besuchen können«, sagte ich.
»Mir wird es schlecht gehen ohne dich. Man wird mich schikanieren«, sagte Vera.
»Nein. Ich werde alles tun, damit du hier ohne mich erträglich leben kannst«, antwortete ich.
»Was wirst du denn tun?«
»Ich werde über dich sprechen.«
»Mit wem?«
»Mit Nina Aleksejewna. Sie kann viel für dich tun.«
»Kann sie, wird sie aber nicht wollen«, sagte Vera.
»Ich bin mir aber sicher, daß sie es tun wird«, antwortete ich.
»Weshalb denn?« fragte Vera.
Mir wurde klar, daß, wenn ich Vera liebte, es tatsächlich noch nicht bedeutete, daß alle anderen sie auch lieben mußten. Doch wollte es mir nicht in den Sinn, wie man sie nicht lieben konnte.
»Verotschka, man muß dich einfach lieben«, sagte ich.
»Warum fährst du dann fort?« fragte Vera. »Du langweilst dich mit mir. Über nichts sprichst du mit mir.«
Ich dachte daran, daß ich die ganzen Tage nach Turdej bei Vera gewesen war, fast ohne Unterbrechung. Ich erinnerte mich daran, daß ich sie die ganze Zeit angeschaut hatte. Allerdings haben wir offenbar tatsächlich nicht geredet, höchstens
über
nichts.
»Vera, du bist mir so nahe, daß ich mit dir nicht zu sprechen brauche. Denn das wäre genauso, als würde ich laut mit mir selbst reden«, sagte ich.
»Nur Verrückte reden mit sich selbst«, sagte Vera.
»Na siehst du, ich liebe dich einfach; ich fühle, daß du da bist, daß es dich gibt, und was soll ich dir denn sonst sagen? Ich weiß ja auch nichts und sehe nichts. Es gibt nichts außer dir. Nur du existierst«, sagte ich.
»Also warum fährst du dann fort?« fragte Vera.
»Du weißt, Verotschka, daß ich fahren muß. Aber das spielt keine Rolle. Wir haben noch drei Tage, und ich denke, daß sie niemals enden werden«, sagte ich.
»Wie, ›niemals enden‹?« fragte Vera.
»Nun, sie werden einfach nicht enden, werden ewig andauern. Die Zeit wird anhalten. Ich spüre schon, wie sie anhält«, sagte ich.
»Ich glaube, du redest dummes Zeug«, antwortete Vera.
XXVI. Vor meiner Abreise ging ich zu Nina Aleksejewna, um mich zu verabschieden.
»Ich hatte nicht gehofft, daß Sie kommen würden«, sagte Nina Aleksejewna. »Ich habe Sie, seit ich in den anderen Waggon gewechselt bin, nicht mehr gesehen, glaube ich. Das heißt, doch, natürlich, als wir zusammen fuhren, aber das zählt nicht. Ich hätte einige Dinge sogar lieber nicht gesehen, zum Beispiel, wie Sie sich auf dem Matratzenstapel zur Schau stellten. Aber so richtig habe ich Sie auch gar nicht gesehen, Sie ließen sich ja nicht blicken.«
»Ich habe mich nicht getraut ...« sagte ich.
»Sie wollten einfach nicht. Sie hatten andere Sorgen. Denken Sie nicht, daß ich irgendwie gekränkt sei und mit einem Vorwurf zu Ihnen spräche. Ich hatte nur den Eindruck, daß Sie keine Zeit für unsere Freundschaft haben«, sagte Nina Aleksejewna.
»Aber gerade im Vertrauen auf Ihre Freundschaft bin ich gekommen«, sagte ich.
»Sie wollen mich um etwas bitten? Ich errate Ihre Bitte sogar«, sagte Nina Aleksejewna.
»Sie raten wahrscheinlich richtig. Ich würde Ihnen Vera gerne anvertrauen. Das heißt ... nicht anvertrauen, sondern ich möchte Sie bitten, ihr zu helfen, wenn die Notwendigkeit besteht. Man mag sie hier nicht; auch früher hat sie oft etwas abbekommen, und jetzt kann man sie wegen mir noch weniger leiden. Außerdem bin ich mir vollkommen bewußt, daß sie eine miserable Krankenschwester ist, chaotisch, flatterhaft, unaufmerksam. Aber man sollte ihr, glaube ich, helfen, weil sie eine andere, besondere Kraft und Bedeutung hat«, sagte ich.
»Gut, ich werde Ihre Manon Lescaut auf mich nehmen; erzählen Sie mir, wie es zwischen Ihnen steht.«
»Ich weiß nicht, was ich Ihnen erzählen soll«, sagte ich.
»Ich brauche natürlich keines Ihrer Geheimnisse«, antwortete Nina Aleksejewna.
»Es gibt auch keine Geheimnisse«, sagte ich. »Sie wissen
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