Die Manon Lescaut von Turdej (German Edition)
Ästen. Niedrige Jungtannen standen wie weiße Pyramiden. Und die Sonne leuchtete durch jeden Zweig hindurch.
»Man kann diesen Hain nicht verlassen«, sagte ich.
»Man kann nicht«, antwortete Vera wie ein Echo.
Ich drehte mich zu ihr. Sie lächelte, begann zu weinen und sagte: »Liebster, wie liebe ich Sie.«
Ich drückte sie so stark, daß ich selbst nahe am Ersticken war. Ich war so erschüttert, daß die ganze Welt um mich herum zusammenzubrechen schien. Und Vera war nett und willig – das war alles.
»Ich wußte, daß heute ein besonderer Tag ist. Ich wußte, daß es heute so sein würde«, sagte Vera. »Wußtest du das?«
»Vera, das einzige auf der Welt, wovon ich weiß, bist du. Du, du, du«, sagte ich.
Vera pflückte ein trockenes Sträußchen aus dem angetauten Schnee, um es ihren Andenken beizugesellen, als Erinnerung an den glückselig durchleuchteten Hain. Wir gingen wieder über die sonnigen Schneefelder, unsere Füße brachen den Harsch des Frühlings. Ich dachte, daß es in dieser Rückkehr zur Natur, in all diesen Hainen und Feldern und in diesem Frühling auch wieder Elemente des achtzehnten Jahrhunderts gab, eines gewissen Rousseauismus’ mit seiner Naivität und Rechtfertigung jeden Lebens.
Vera ging voraus; ich blieb für eine Stunde im Bahnhof. Ich saß dort fast regungslos. Im dunklen, engen Raum gab es sonst keine Menschenseele. Es war bereits völlig dunkel geworden, als ich zum Waggon kam. Schon am Aufstiegstritt, hielt ich inne. Drinnen sangen sie. Hier draußen hörte man weder Geschrei noch falsche Töne. Die Stimmen schienen mir harmonisch, die der Mädchen hell, die der Männer zart. Ungewöhnlicherweise sangen sie keinen Filmschlager, sondern ein russisches Volkslied, das sich für mich von da an für immer mit Vera verband:
Inmitten weiter Felder
Blühte ich wie Mohn,
Mein freudenreiches Leben
Floß so wie ein Fluß.
In allen Reigen schaute
Mein Liebster nur auf mich,
Erfreute unentwegt sich
An meinem Anblick sehr.
Alle Mädchen schauen
Neidisch zu mir hin,
»So ein Zauberpärchen«,
Hört man überall.
Ganz anders ist mein Liebster
Geworden, denn was ich
Ihm war, das ist nun leider
’ne andre, mir zum Gram.
Was ist an ihr denn besser,
Worin ist sie schön?
Nimmt fort von mir den Liebsten,
Wie kann das bloß sein?
Hilf mir, liebe Mutter,
Die da auszumerzen,
Oder zwing die Liebe,
Völlig zu versiegen.
»Ach, du liebe Tochter,
Was soll ich bloß tun?
Wie du Liebe fandest,
So vergiß sie auch.«
XX. Alle gingen an diesem Abend aus irgendeinem Grund sehr früh schlafen. Vera verschwand als erste unter der Pritsche. Die Lampe brannte. Aus den Winkeln war noch Gemurmel zu hören. Ich nahm das Buch und machte es mir unter der Laterne bequem.
Ich wurde hochgeschleudert. Die Lampe begann gleichmäßig und schnell zu schaukeln, wie ein Metronom, und die blakende Flamme bog sich, leckte am Glas und hinterließ dort breite schwarze Rußstreifen. Der Explosionsknall war nicht sonderlich laut, dumpf, vermischt mit dem Krachen auseinanderbrechenden Holzes. Ein Luftangriff auf den Betriebsbahnhof hatte begonnen. Der Flieger hielt sich tief und warf seine Brandbomben direkt über unserem Zug ab.
Wir begriffen nicht sofort, was los war. Aslamasjan rief als erster: »Luftangriff!« Die Hauptmännin warf sich kreischend gegen die Tür. Alle anderen stürzten ebenfalls los. Die Tür gab nicht nach. Levit überrannte alle und sah dabei so verzweifelt aus, daß mir die Knie zitterten. Im Laufen riß er mit seiner Mütze die Lampe herunter. Vera schnellte im Dunklen hoch, als blase sie der Wind von der Stelle weg, griff kurz meine Hand und eilte zum Ausgang. Aslamasjan hantierte an der Tür. Endlich ging sie auf. Levit sprang als erster hinaus und rannte durch den Schnee über einen Hügel zu einer Mulde. Um ihn herum Menschen aus allen Waggons. Es war still, alle schwiegen und wateten im Schnee. Der Waggon leerte sich. Aslamasjan nahm die kleine Lariska und ging die Hauptmännin suchen. Ich blieb allein.
Mich packte widerliche, schier tierische Angst, ich konnte mich nur mit großer Mühe dazu zwingen, nicht den anderen hinterherzurennen. Ich zog den Uniformmantel an und setzte mich zum Ofen, der noch warm war. Es gab keine Explosionen mehr, aber der Flugzeugmotor heulte und knallte noch. Dann hörte man ein Maschinengewehr. Ich verkroch mich, preßte meine Knie zusammen, drückte die Ellenbogen in die Flanken, als könnte mich das alles retten. Das war echte,
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