Die Manon Lescaut von Turdej (German Edition)
zu durchstoßen. Unversehens – das erste Mal ohne Vera – gelangte ich in die Felder. Die Einsamkeit war für mich ungewohnt geworden. Die Felder schienen mir neu – weit und hell, als ob ich sie früher nicht gesehen hätte. Ich bemerkte selbst nicht, wie weit ich mich vom Dorf entfernt hatte, bis zu dem Wäldchen, wo Vera ihren letzten Strauß gepflückt hatte.
Eine Art Anfall einer scheinbar lange zurückgehaltenen und schließlich hervorgebrochenen Schwermut überkam mich.
Habe ich mich etwa wirklich völlig verloren,
dachte ich, und werde ich mich nie wieder als den alten sehen; werde ich nicht mehr Fragmente der Wirklichkeit so in mir verbinden können, daß eine besondere, meine eigene Welt entsteht, in der ich überall und auf jede Weise würde leben können? Ich erinnerte mich an meine früheren Gedanken über das Glück: Früher stellte ich es mir irgendwie goethisch vor, gleichmäßig und endlos, als ein Resultat von Wissen, Schaffen und Freiheit. All dies verschwand neben Vera.
In der Romantik liegt ein anderes Glück,
dachte ich.
Die Romantik sprengt die Form und steht am Anfang des Zerfalls eines Stils. Hier zeigen sich Jugend und Rebellion. Rebellion aber ist spießig. Der große und vollkommene Goethe schätzte die Romantiker gering, weil er in ihnen Spießer sah. In jeder Jugend steckt Romantik. Und das Glück ist da schnell, vergänglich, scheinbar mit nichts verbunden; du weißt nicht, wie du es festhalten sollst. In der Romantik gibt es keine Schwermut, weil sie sich nicht an die Vergangenheit richtet; sie hat auch keine Vergangenheit. Statt der Schwermut findet sich Sehnsucht in ihr: Vorahnung oder Erwartung dessen, was sein wird.
Ich ging den ganzen Morgen durch die Felder. Als ich in die Holzhütte zurückkehrte, stand Vera nicht auf und sprang mir nicht entgegen, wie sie es sonst immer getan hatte. Alle meine Gedanken waren irgendwohin verschwunden. Besorgt betrat ich das Zimmer.
»Du hast, scheint mir, geweint, Verotschka?« fragte ich.
»Nein«, sagte Vera.
»Ist etwas Schlimmes geschehen?« fragte ich.
»Nichts ist geschehen«, antwortete Vera, sich abwendend, so daß ich sie statt auf die Wange auf den Hinterkopf küßte. »Aslamasjan ist gekommen, um dich abzuholen.«
»Wozu?«
»Weiß ich nicht. Man ruft euch zum Zug.«
»Wahrscheinlich fahren wir von hier fort«, sagte ich. »Aber wie jetzt, kommt Aslamasjan noch einmal vorbei, oder muß ich irgendwohin gehen?«
»Er kommt vorbei«, sagte Vera und brach in Tränen aus.
»Vera, irgend etwas ist zwischen dir und Aslamasjan geschehen«, sagte ich.
»Nein«, antwortete Vera durch die Tränen hindurch.
Ich stand auf und trat zum Fenster.
»Vera, ich bitte dich sehr: Hör auf zu weinen, und erzähl mir alles, was hier passiert ist«, sagte ich.
»Warum läßt du mich allein?« fragte Vera.
»Mein Gott, du weinst doch nicht deswegen! Du hast noch geschlafen; ich ging nur für eine sehr kurze Zeit weg«, sagte ich gereizt.
»Ich weiß, warum du gegangen bist, und weiß, wo du warst«, sagte Vera.
»Da gibt es nichts zu wissen«, sagte ich.
»Dir ist gleichgültig, daß ich allein bin«, sagte Vera und lachte plötzlich.
»Du warst doch überhaupt nicht allein; du sagst doch selbst, daß Aslamasjan vorbeigekommen ist«, antwortete ich.
»Bilde dir nur nicht ein, daß Aslamasjan dir so ein Freund ist. Er wollte mich küssen«, sagte Vera.
»Das überrascht mich nicht. Außerdem bin ich mir ziemlich sicher, daß du ihn geküßt hast«, sagte ich mit dem Anschein völliger Gleichgültigkeit.
Gerade noch hatte Vera gelacht, und nun begann sie so verzweifelt zu weinen, daß ich meinen gleichgültigen Tonfall sofort verlor.
»Weine nicht, Verotschka, weine nicht, es ist doch nichts passiert«, sagte ich. »Warum bist du so verzweifelt? War vielleicht noch etwas anderes?«
»Nein, aber ich bin gekränkt, weil du so von mir denkst und weil du mich nicht mehr liebst und es dich nicht traurig macht, daß wir von hier fortfahren, und weil du zu der gegangen bist«, murmelte Vera.
Mit
der
meinte sie Nina Aleksejewna.
»Verotschka, ich dachte nicht einmal an sie. Ich war in unserem Hain und dachte nur an dich«, sagte ich.
»Warum hast du mich bloß allein gelassen? Du hast dich völlig verändert«, sagte Vera. »Alles hat sich bei uns verändert: Ich liebe dich jetzt sehr viel mehr, und du liebst mich weniger. Weißt du noch, was das für Abende waren im Waggon? Da hast du mich wirklich geliebt.«
Ich dachte, daß es
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