Die Manon Lescaut von Turdej (German Edition)
ja, daß ich dagegen bin, solche Dinge preiszugeben. Aber es wissen doch sowieso schon alle alles. Deswegen werde ich Ihnen die Wahrheit sagen.«
»Sie haben mir schon einmal die Wahrheit gesagt«, antwortete Nina Aleksejewna.
»Das ist damals, noch ganz am Anfang gewesen? Also damals habe ich wirklich alles mögliche erzählt und mich herausgeredet«, sagte ich. »Jetzt will ich es anders machen. Ich liebe Vera. Aber hier gibt es eine Besonderheit: Mit ihr steht die Zeit für mich still. Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen. Mit ihr ist nur das möglich, was gegenwärtig ist. Ich hätte gerne, daß das immer so wäre. Aber ich bin überhaupt nicht imstande, mir für uns eine Zukunft vorzustellen, ob gut oder schlecht. Als ob es kein ›weiter‹ geben könne. Das macht mir angst.«
»Wieso angst?«
»Das zu erklären fällt mir auch nicht gerade leicht. Mir scheint, daß uns eine Katastrophe erwartet. Alles muß irgendwie plötzlich aufgelöst werden und aufhören. Also, wir werden beide sterben oder dergleichen. Es existieren Gesetze des Lebens, die denen der Kunst sehr ähneln. Das heißt, im Grunde müssen das dieselben Gesetze sein. Die Kunst unterscheidet sich vom Leben nur durch das Maß der Anspannung. Die Liebe aber ist eine solche Anspannung, daß das Leben selbst zur Kunst wird. Deshalb habe ich soviel Angst um mich und um Vera. Ich hoffe nur, daß das Schicksal eine unvorhergesehene Wendung in petto hat.«
»Sie haben sich etwas Kompliziertes ausgedacht, aber ich verstehe, warum Sie so sprechen«, antwortete Nina Aleksejewna. »Berichten Sie nun von Vera. Liebt Vera Sie?«
»Sie stellen mir die ganze Zeit schwierige Fragen. Sie hängt sehr an mir. Sie weint viel wegen meiner Abreise. Ich denke, daß sie manchmal glücklich bei mir ist. Nein, ich weiß, daß sie mich liebt«, sagte ich.
»Dabei treiben Sie Vera ins Verderben«, sagte Nina Aleksejewna.
»Wieso ins Verderben?« fragte ich angstvoll.
»Das folgt aus eben dem, was Sie gerade gesagt haben: Sie haben ihr den Kopf verdreht mit Ihrer Anbetung. Sie – wie kann man das sagen –, Sie heben sie auf eine Höhe. Jetzt hat dieses Kind ein Schicksal. Sie selbst halten dieses Schicksal für unabwendbar. Und überlegen Sie mal, vielleicht war etwas ganz anderes für sie vorgesehen, etwas Normales, Friedliches«, sagte Nina Aleksejewna.
»Nein, Sie irren sich«, antwortete ich. »Sie hatte immer dasselbe Schicksal, und nicht ich habe ihr Bedeutung und Kraft verliehen. Ich unterliege selbst ihrem Schicksal. Ich brauchte sie nicht auf eine Höhe zu heben, sie wurde dort geboren. Ich bin in allem ein Nebendarsteller.«
»Und ich bin der Ansicht, daß Sie sich Veras Leben ausgedacht und sie gezwungen haben, dieses Leben zu durchleben – daß Sie aus einem einfachen Mädchen eine Romanheldin gemacht haben«, sagte Nina Aleksejewna.
»Wissen Sie, Nina Aleksejewna, wir sind in einem Gespräch über Literatur gelandet, als ob wirklich von Manon Lescaut und Chevalier des Grieux die Rede wäre«, sagte ich.
»Ich mag des Grieux ja gar nicht. Bei all seinem Edelmut ist er irgendwie jämmerlich und klein«, antwortete Nina Aleksejewna. »Aber wir sind tatsächlich furchtbar weit abgeschweift.«
»Na sehen Sie, und dabei bin ich doch mit dem einfachsten und alltäglichsten Anliegen zu Ihnen gekommen. Schützen Sie Verotschka«, sagte ich.
»Sie lieben Vera einfach über alle Maßen«, sagte Nina Aleksejewna.
»Was soll ich denn bloß machen?« antwortete ich.
»Gut, ich werde mich Ihrer Vera annehmen und schauen, ob sie wirklich eine Romanheldin ist«, sagte Nina Aleksejewna.
XXVII. Nach meiner Abreise konnte ich mich lange nicht richtig fassen, war nicht in der Lage, zu mir selbst zu finden und zur Ruhe zu kommen. Es war schwer, in die Einsamkeit zurückzukehren. Ich fühlte Vera weiterhin neben mir, als ob ich sie nie verlassen hätte. Alles, was ich sah und dachte, war voll von Vera; sie war mir noch näher. Ich liebte sie jetzt wohl mehr, denn nun störte mich nichts dabei; nicht einmal Vera selbst störte mich dabei. Ich lebte immerfort in der angehaltenen Zeit; es gab kein
weiter
.
Ich zwang mich, in Worten an Vera zu denken; sogar ihr Gesicht war mir in allen Einzelheiten so gegenwärtig, daß ich mich
nicht
daran erinnern konnte – weil du Menschen, die dir nahestehen, nicht vom Anschauen kennst, sondern aus einem besonderen, inneren Gefühl: Du siehst sie und erkennst sie scheinbar nicht einmal, aber etwas sticht im Herzen. Nur Fetzen
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