Die Manon Lescaut von Turdej (German Edition)
visueller Erinnerung lebten in meinem Gedächtnis fort, besonders der allerletzte: Vera verabschiedete mich zusammen mit Nina Aleksejewna, als ich mich ins Automobil setzte; ich sah, wie sie einander um die Taille gefaßt hielten und mir hinterherwinkten – die eine mit der linken, die andere mit der rechten Hand.
Ich zwang mich, daran zu denken, was mit Vera und mir passieren würde. Aber das einzige, was ich mit Sicherheit wußte, obwohl ich mich bemühte, nicht daran zu denken, war: Vera hatte mich nicht gerade sofort vergessen, als ich weggefahren war, hatte mich aber irgendwie beiseite geschoben, genau wie sie für mich ihre vorigen Geliebten weggeschoben hatte. Für sie gab es keine Vergangenheit, nicht einmal die jüngste.
Ich stellte mir vor, daß ich Vera nie wiedersehen würde – daß ich einfach nicht mehr zu ihr kommen würde, daß ich an etwas anderes denken, sie vergessen und für immer wegfahren würde und daß Vera aus meinem Leben wieder in eine nicht existierende Welt verschwinden würde, wie Levit, Galopowa, die Hauptmännin: Es würde nur eine neblige Erinnerung zurückbleiben wie von etwas Fremdem.
So konnte es nicht sein!
Ich stellte es mir anders vor: Vera würde mich betrügen, vielleicht noch vor meiner Rückkehr. Man würde mir davon erzählen. Wir würden nicht darüber sprechen, damit sie nicht würde lügen müssen. Ich würde mich von ihr verabschieden, als ob nichts passiert wäre. Wir würden einander nie mehr wiedersehen. Nach und nach würde ich sie vergessen. Als ich das dachte, drehte sich mir das Herz im Leibe um. Natürlich würde es so kommen, es hatte keinen Sinn, weiter zu phantasieren. Es tat mir so weh, als wäre all das tatsächlich schon passiert.
Und wenn Vera mich nicht sofort betrügen würde? Ich würde zurückkommen, und alles würde sein wie früher, aber später dann würde sie es nicht schaffen, mich nicht zu betrügen. Und warum? Aus Neugier, aus Lebenshunger. Oder einfach so, aus Gewohnheit. Alles würde genau so sein, nur die stehengebliebene Zeit würde nicht sofort verbraucht werden. Und dann würde sie doch verbraucht werden, und mir bliebe nur, sie nach und nach zu vergessen.
Ich wollte mir vorstellen, daß Vera und ich für immer zusammenbleiben würden. Aber das konnte ich mir nicht vorstellen. Vera und ich, wir stimmten in nichts überein. Vielleicht wollte sie mir ähnlich werden, konnte es aber nicht. Ich erinnerte mich, wie sie mir, noch im Waggon, als man mich Gottesnarr nannte, triumphierend erzählt hatte: »Weißt du, die Mädchen sagen, daß auch ich mit dir zur Gottesnärrin geworden bin.« Sie war nicht zur Gottesnärrin geworden. Und ich liebte sie vielleicht gerade deswegen, weil sie in allem mein Gegenteil war.
Vera hatte mich beiseite geschoben. Ich wußte das. Alles, was ich zu denken versuchte, war zwanghafte Grübelei und vergeblich. Ich hatte nicht die Kraft zu entscheiden. Ich konnte das Schicksal, das sich unaufhaltsam fortbewegte und uns zerdrücken mußte, nicht ändern. Ich war nicht imstande, nicht zu Vera zu fahren. Aber ich fühlte das Schicksal, so sehr ich mich auch bemühte, dieses Gefühl zu betäuben.
XXVIII. Die ersten Briefe von Vera kamen schon nach sehr kurzer Zeit. Ihnen folgte ein Brief von Nina Aleksejewna. Das führte mich ein wenig aus meiner geistigen Starrheit heraus, aus dem Kreis der immer gleichen Gedanken. Die Briefe waren ein Beweis, daß Veränderungen stattgefunden hatten; etwas war vom Fleck gerückt. Ich sah mich selbst wie durch fremde Augen. Da lebten sie dort und dachten an mich. Die Briefe erklärten mir meine Einsamkeit. Für Vera war ein Leben möglich, von dem ich nichts wußte und nie etwas wissen würde. Es machte nichts, daß wir von diesem Leben wenig gesprochen hatten, als ich noch bei ihr gewesen war; alles, was sie dachte, konnte ich in ihrem Gesicht erkennen. Ich konnte in Veras Gesicht lesen. In ihren Briefen konnte ich nicht lesen. Sie war nicht bei mir. Hinter diesen Briefen konnte alles stecken, was ich mir nur vorgestellt hatte.
Die Briefe waren voller zärtlicher Worte und Liebesbeteuerungen. Sie hatten kein Maß.
»Warum kommst Du nicht?« schrieb Vera. »Wenn Du nur wüßtest, wie ich jede Minute auf Dich warte. Ich schaue aus dem Fenster, ob Du kommst. Beim Anblick eines Offiziers in einem Uniformmantel wie dem Deinen bin ich beinahe in Ohnmacht gefallen. Ich dachte, Du wärst gekommen, um mich abzuholen.«
In einem anderen Brief schrieb sie noch: »Ich bin so
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