Die Marionette
denkst«, sagte er lahm.
Marrtinez zog eine Augenbraue hoch. War es das nicht immer?
***
Berlin, Deutschland
Karl Lentz war ein äußerst pünktlicher Mensch, pedantisch geradezu. Auch an diesem frühen Abend des 28. Mai machte er keine Ausnahme. Genau um 17:57 Uhr räumte der Rentner den Aufsteller vor dem Eingang zum
Raum der Stille
im Nordflügel des Brandenburger Tors in den Vorraum und vergewisserte sich mit einem letzten Blick, dass auch wirklich alle Besucher gegangen waren. Er klappte das Gästebuch zu, löschte das Licht, und genau um 17:59 Uhr zog er die Eingangstür hinter sich ins Schloss.
Seit zwei Jahren gehörte der ehemalige Steuerbeamte zu der rund achtzigköpfigen Gruppe ehrenamtlicher Mitarbeiter, die dafür sorgten, dass alle Besucher des Brandenburger Tors, Einheimische wie Gäste der Stadt, Zutritt zu diesem besonderen Raum erhielten und hier ihren Frieden fanden, wie Lentz sich gern ausdrückte, wenn er gefragt wurde. Viermal im Monat verbrachte er einen ganzen Nachmittag hier, und nur einmal war es ihm in dieser Zeit nicht gelungen, pünktlich zu schließen. Zweimal drehte er jetzt den Schlüssel im Sicherheitsschloss und rüttelte ein letztes Mal an der Tür, um sich zu vergewissern, dass sie auch wirklich zu war, dann machte er sich auf den Weg zur nahe gelegenen S-Bahn-Station Brandenburger Tor, um nach Hause zu fahren, wo seine Frau bereits mit dem Abendessen wartete. Es war ein warmer Tag gewesen, die Bäume in der Straße des 17. Juni standen in vollem Grün, die Sonne noch immer am Himmel. Lentz machte die Hitze seit seiner Pensionierung zu schaffen, und obwohl er erst wenige Schritte gegangen war, blieb er kurz stehen, zog ein großes gebügeltes Stofftaschentuch aus der Brusttasche seines karierten Hemdes und wischte sich damit über den fast kahlen Schädel. Hoffentlich hatte seine Frau das Bier kaltgestellt, war sein letzter Gedanke, bevor die Gebäude um ihn herum durch eine Explosion erschüttert wurden. Einen Atemzug lang meinte er die fünfzehn Meter hohen Säulen des Brandenburger Tors wanken zu sehen. Dann hüllte ihn eine Staubwolke ein, nahm ihm den Atem und machte ihn blind. Ein Mauerstück traf ihn am Hinterkopf und fällte ihn wie einen Baum. Der
Raum der Stille
war nicht mehr. Ein Loch gähnte in dem oxidierten Kupfer des Daches, das sich über dem Torhaus wölbte. Flammen und Staub schossen heraus.
***
Berlin, Deutschland
In den Straßen hallten die Martinshörner der Polizei und der Rettungsfahrzeuge wider. Binnen kürzester Zeit war der gesamte Bereich um das Brandenburger Tor weiträumig abgeriegelt. Ein Polizeibeamter öffnete die Absperrung für die sich nähernden Regierungsfahrzeuge. Valerie stieg zusammen mit Mayer und Martinez aus dem dunklen Geländewagen. Vor ihnen öffneten sich die Türen eines baugleichen Fahrzeugs, mit dem Schavan, Wetzel und zwei Mitarbeiter des Verfassungsschutzes gekommen waren. Bis auf Wetzel, dessen weite Jeans um seine dünne Gestalt herumschlabberte, trugen alle Männer Anzüge, sogar Martinez. Ihre Gesichter verrieten die nervöse Anspannung. Katja hatte ihre Drohung wahr gemacht. Sie hatte mitten in der Hauptstadt, zu Füßen eines der größten Touristenmagneten, einen Sprengsatz gezündet. Und niemand wusste, ob weitere Bomben irgendwo heimlich tickten. Niemand wusste, was als Nächstes geschah. War das Katjas Antwort auf die Angebote, die Valerie ihr erst vor einer Stunde unterbreitet hatte?
Um sie herum wimmelte es von Feuerwehrleuten und Einsatzkräften der Polizei. Krankenwagen mit Blaulicht standen auf dem Gelände, zwei Rettungssanitäter rannten mit einer Trage an ihr vorbei, dicht gefolgt von einem Notarzt. Sie sah Eric über den Platz eilen, das Telefon am Ohr. Valerie fröstelte. So musste die Stimmung in Hamburg nach dem Anschlag auf den Dammtorbahnhof vor anderthalb Jahren gewesen sein. Jenseits der weiträumigen Absperrung hatten sich auf der Straße des 17. Juni bereits Staus gebildet, Passanten starrten aus der Ferne ungläubig auf die Trümmer neben dem Brandenburger Tor. Mauerstücke und Teile des Dachs lagen auf dem Platz verstreut, die Schuhe der Polizisten und Ermittler hinterließen dunkle Spuren in dem hellen Staub, der sich nur langsam setzte. Ein plötzlicher Windstoß trieb beißenden Qualm auf Valerie zu. Sie zog ein Taschentuch aus ihrer Tasche und hielt es sich hastig vor Mund und Nase. Sie fragte sich plötzlich, warum sie mitgekommen und nicht stattdessen im Lagezentrum geblieben war.
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