Die Marionette
aufgerissenen Augen. Katja spürte wieder, wie ihr Finger am Abzug des Schnellfeuergewehrs erstarrte, während die Kinder den Marktplatz stürmten. Schrien. Sie war die Einzige, die in der richtigen Position gewesen war, um den Angriff im Keim zu ersticken. Und sie hatte gezögert, kostbare Sekunden, die viele Menschenleben auf dem Platz hätten retten können. Unter ihnen waren Kinder gewesen, Babys, schwangere Frauen. Sie hatten verblutend im Dreck gelegen. Hilflos hatte sie mit ansehen müssen, wie sie starben. Kindersoldaten kannten keine Gnade. Sie waren Tötungsmaschinen, ohne Mitleid, unter Drogen, in einem Blutrausch, der nur durch den eigenen Tod gestoppt werden konnte. Sie hatten sie letztlich erschossen, einen nach dem anderen, neun-, zehnjährige Jungen, in deren Gesichter im Tod alles Kindliche, alles Verletzliche zurückkehrte. Einige unter ihnen kamen aus ebenjenem Dorf, das sie überfallen hatten. Nie würde sie das Grauen im Gesicht der Frau vergessen, die vor ihrem Sohn kniete, der gerade seine eigenen Schwestern getötet hatte. Grausame Szenen hatten sich vor den Augen der westlichen Soldaten abgespielt, bevor sie die kindlichen Angreifer überwältigen konnten. Eric, Chris und zwei Amerikaner waren damals dabei gewesen. Sie wusste nicht, wie die Männer mit der Erinnerung fertig geworden waren. Keiner von ihnen hatte jemals über diesen Tag gesprochen, sie hatten ihn totgeschwiegen, als ob sie ihn so ungeschehen machen konnten. Sechs Monate später hatten Katjas Alpträume begonnen.
Seither gab es Ruhe für sie nur im Einsatz, wenn die volle Konzentration auf das Ziel, den Erfolg der Mission gerichtet war. Wieder kamen Katja die Worte des amerikanischen Offiziers in den Sinn, mit dem sie in Afghanistan zusammengearbeitet hatte:
Irgendwann gibt es nur noch einen Ort, an dem du zu Hause bist, und das ist der Krieg. Du kannst nicht zurück, nach allem, was du gesehen hast.
Nein, sie konnte nicht zurück. Es gab keinen Weg. Warum verstand Eric das nicht? Sie schlug die Augen auf und blickte auf den Monitor ihres Laptops. Auf die wenigen Zeilen, die er ihr geschrieben hatte. Er glaubte, sie zu kennen. Aber er täuschte sich. Katja stand auf, hörte, wie Bender im Nebenraum hustete. Alles war vorbereitet. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Es war an der Zeit, aufzubrechen, und diesmal würde sie nicht zögern.
***
Brandenburg, Deutschland
Wenn du stirbst, wird sich niemand darüber freuen. Das verspreche ich dir.
Die Worte kreisten in Gerwin Benders Kopf, während er den Schritten der Ex-Soldatin lauschte. Was machte sie dort im Nebenraum? Das Schlimmste war die Ungewissheit, in der sie ihn ließ. In der Nacht war sie mit dem Wagen fortgefahren und erst am Vormittag zurückgekehrt. Nachdem das Motorengeräusch in der Stille und Dunkelheit verklungen war, hatte er versucht, sich zu befreien, hatte mit aller Kraft am Heizungsrohr gerissen, an das sie ihn gekettet hatte, doch so alt und marode das Mauerwerk auch schien, in das es eingelassen war, es hielt stand. Schließlich hatte er seine Wut und Verzweiflung herausgebrüllt, bis er heiser zusammengebrochen war. Sein Herz hatte wild geschlagen in seiner Brust, und als ihm klargeworden war, dass er seit seiner Entführung keine Medikamente gegen seinen Bluthochdruck eingenommen hatte, spürte er prompt eine Enge in seinem Brustkorb, das schon vertraute Ziehen. Er hatte gegen die Panik angekämpft, einer Herzattacke zu erliegen. So würde er nicht sterben. Irgendwann in den Stunden vor Tagesanbruch musste er dann eingeschlafen sein. Erst das Motorengeräusch des Geländewagens hatte ihn aufgeschreckt, und er war seltsamerweise erleichtert gewesen, Katja Rittmers Silhouette in der Tür zu sehen. Jetzt hörte er ihre Schritte näher kommen. Gleich darauf stand sie im Raum, maß ihn mit kaltem Blick, bevor sie seine Handschellen von dem Heizungsrohr löste und ihn mit einem Ruck vom Boden hochzog, als seine Beine nicht sofort gehorchten.
»Was ist los, wohin gehen wir?«, fragte er, überrascht von der Kraft, die sie besaß, doch wie immer antwortete ihm nur stoisches Schweigen. Drei ganze Sätze hatte sie ihm gegenüber geäußert, seit sie ihn aus dem Atlantic entführt hatte. Sie zog einen Revolver aus dem Bund ihrer Armeehose und wies damit zur Tür.
Bender stolperte aus dem Raum in den Flur. Die Haustür stand offen. Katja Rittmer packte ihn am Arm. Einen flüchtigen Moment dachte er an Widerstand, an Flucht, aber ihre Finger gruben sich noch fester
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