Die Marionette
Martinez tauchte im Laufschritt aus Richtung des gesprengten Torhauses auf. Wie hypnotisiert verfolgte sie jede seiner Bewegungen. Die unerwartete Konfrontation mit ihm belastete sie weitaus mehr, als sie sich hatte anmerken lassen. Sie versuchte, ihm aus dem Weg zu gehen. Sie wollte nicht mit ihm sprechen, nichts mit ihm zu tun haben. Dennoch ertappte sie sich immer wieder dabei, dass sie ihn beobachtete und dabei das, was sie sah, mit ihrer Erinnerung an ihn verglich, mit den Bildern in ihr, die in den vergangenen anderthalb Jahren eine gewisse Eigenständigkeit entwickelt hatten. Am meisten erschreckte sie sein Lachen.
Nicht allein deswegen hatte sie sich verbissen auf ihre Aufgabe gestürzt, erste Verhandlungen mit dem Justizministerium geführt und sondiert, inwieweit die Behörden Katja Rittmer entgegenkommen würden, wenn Valerie die Ex-Soldatin zur Aufgabe bewegen konnte. Sie hatte mit Katja gesprochen, ohne sie wirklich zu erreichen, wie sie nun wusste. Lars Günther, der große rotblonde Psychologe, war an ihrer Seite gewesen. Neben seiner herkömmlichen Arbeit war er spezialisiert auf die Verhandlungsführung bei Geiselnahmen, und er kannte Katjas Akte inzwischen bis ins letzte kleine Detail. Sie hatten die Gespräche aufgezeichnet und später in größerer Runde analysiert. Valerie blickte an den mächtigen dorischen Säulen des Brandenburger Tors empor, die sich hinter ihr in den Himmel reckten. Warum hatte sie Katja nicht erreicht, was hatte sie falsch gemacht? Sie zog ihr Handy aus der Tasche und wählte Katjas Nummer, doch die Ex-Soldatin war nicht zu erreichen.
Zurück im Lagezentrum fasste Jochen Schavan die ersten Ergebnisse der Untersuchungen zusammen. »Wir haben einen beträchtlichen Sachschaden, aber ansonsten haben wir Glück gehabt. Zum Zeitpunkt der Explosion befanden sich nur eine Handvoll Menschen in der Nähe des Torhauses«, erläuterte er. »Drei davon sind leicht verletzt. Sie haben ein Explosionstrauma, wurden gleich vor Ort mit Infusionen behandelt und zur Sicherheit in die HNO -Abteilung der Charité überführt.«
Zwei weitere Personen waren von Mauer- und Dachteilen getroffen worden, darunter der Mann, der zum ehrenamtlichen Team der Betreuer des
Raums der Stille
gehörte und an diesem Nachmittag Dienst gehabt hatte. Er war mit einer Gehirnerschütterung und Abschürfungen in die Klinik gebracht worden. »Wenn er nicht so überpünktlich um kurz vor sechs Feierabend gemacht hätte, wäre er jetzt tot«, bemerkte Schavan. »Die Bombe ist um exakt 18 Uhr explodiert.«
Erste Analysen der Experten ergaben, dass es sich um denselben Sprengstoff handelte, mit dem Katja Rittmer den verlassenen Gasthof in Nordhessen gesprengt hatte. Es war ein Schlag ins Gesicht für die gesamte Ermittlungsmannschaft. Mit diesem ersten Anschlag demonstrierte Katja ihnen deutlich ihre Ohnmacht, lag der Ort, den sie gewählt hatte, doch nahezu in direkter Nachbarschaft zum Regierungsviertel in Berlin. »Wir können fast rüberspucken«, hatte Wetzel trocken bemerkt. Direkt neben dem Brandenburger Tor befand sich zudem die amerikanische Botschaft, ein Umstand, der nicht nur für diplomatische Aufregung gesorgt hatte, sondern sicher nicht ganz zufällig war. Katja meinte es ernst, und das war ihre letzte Warnung.
Im Augenblick wurden die Mitarbeiter des
Raums der Stille
als Zeugen befragt, die in den vergangenen Tagen das Gebäude während der Öffnungszeiten betreut hatten. Eine Frau, die am Vortag ihren Dienst versehen hatte, erkannte Katja auf dem Fahndungsfoto wieder.
»Sie hat den Sprengstoff am Morgen plaziert, kurz nach Benders Entführung«, resümierte Mayer. »Sie muss sich in der Stadt oder der näheren Umgebung versteckt gehalten haben.« Er wirkte ruhig, beherrscht wie immer, aber Valerie erkannte an der Falte zwischen seinen Brauen und der scharfen Linie seines Mundes, wie ungehalten er über ihre Hilflosigkeit war, und die Leichtigkeit, mit der Katja sie alle vorführte. Die Bundeskanzlerin persönlich erwartete seinen Bericht, und er würde alles andere als gute Nachrichten überbringen. Katja Rittmer hielt an ihren Forderungen fest und zögerte nicht, ihre Drohungen wahrzumachen. Diesmal waren sie noch vergleichsweise glimpflich davongekommen. Aber was würde beim nächsten Mal geschehen? Es blieben ihnen noch knapp zehn Stunden, den nächsten Anschlag zu verhindern.
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29. Mai
Berlin, Deutschland
E s war kurz nach Mitternacht, als Eric Mayer ins Lagezentrum zurückkehrte.
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