Die Marionette
Sie legte ihn auf die Seite, fuhr den Wagen unter die Bäume und wechselte die Nummernschilder auf das lokale Kennzeichen. Sie kannte die Menschen in den ländlichen Gegenden. Sie wurden misstrauisch, wenn auswärtige Fahrzeuge am Wegrand parkten. Dann nahm sie ihren Rucksack und verbarg ihr helles Haar unter einer Schirmmütze. Es waren drei Kilometer bis ins Stadtzentrum.
Die Täler waren schmal im Schwarzwald, auch das der Nagold, die Hänge dicht bewaldet. Die Bäume versperrten ihr die Sicht auf die unter ihr liegende Altstadt. In ihrem Schatten eilte sie den Hang hinunter. Der Rucksack drückte auf ihren Rücken. Sie hatte im Schutz der Nacht kommen wollen. Nicht am helllichten Tag. Doch sie hatte vorgesorgt. Auch für einen solchen Fall. Die Kirchturmuhr schlug vier. Wenn sie wieder beim Wagen sein wollte, bevor Bender aufwachte, hatte sie noch eine Stunde Zeit.
Als sie den von Fachwerkhäusern gesäumten Marktplatz der Stadt erreichte, begriff sie, dass ihre Vorahnung sie nicht getäuscht hatte. Etwas stimmte nicht. Am Brunnen saßen zwei Männer in Freizeithemden und Jeans, zu ihren Füßen lag ein Golden Retriever. Die Sonnenschirme der Cafés waren aufgespannt, aber nicht mehr als eine Handvoll Gäste hatten an den kleinen Tischen Platz genommen. Ein Stück weiter stand eine Reisegruppe vor einem der Fachwerkhäuser und lauschte den Ausführungen ihres Fremdenführers. Zu wenige Passanten, die Geschäfte zu still für einen normalen Werktag. Von der Straße jenseits der Nagold drang Verkehrslärm herüber, ein Hupen. Katja verharrte in einem Ladeneingang. Der Hund sah zu ihr herüber, seine dunkle Nase zuckte, dann sprang er plötzlich auf und bellte. Nur einen Atemzug später durchzuckte ein stechender Schmerz ihren rechten Arm. Katja sprang zurück und presste sich an eine Hauswand. Ein weiteres Geschoss verfehlte sie nur knapp. Scharfschützen. Im selben Moment flogen die Türen der umliegenden Häuser auf und schwarzgekleidete Einsatztruppen stürmten heraus. Sie hatten sie erwartet und ihr eine Falle gestellt. Und sie war blind hineingetappt. Katja zögerte nicht eine Sekunde, machte auf dem Absatz kehrt und rannte die Gasse hinauf, durch die sie gekommen war. Vor ihr tauchte ein gepanzertes Fahrzeug hinter einer Häuserecke auf und versperrte die Straße. Sie riss ihren Rucksack von der Schulter und rannte darauf zu. »Stehen bleiben!«, schrie jemand. Katja ignorierte den Ruf, warf den Rucksack unter das Fahrzeug und stieß sich ab. Sie landete auf der abgeflachten Front, rollte sich ab und schlug auf der anderen Seite hart auf dem Kopfsteinpflaster auf, sprang auf, rannte weiter und drückte den Zünder an ihrem Handgelenk. Die Schockwelle der Explosion ließ die Fensterscheiben der umliegenden Häuser bersten, warf sie nach vorn, und sie spürte mehr, als dass sie es sah, wie das Fahrzeug vom Boden abhob, während die Welt um sie herum still wurde. Sie rappelte sich erneut auf und setzte ihre wilde Flucht fort. Erst allmählich kamen die Laute zurück, dumpf und unwirklich. Martinshörner, quietschende Reifen. Sie sah sich nicht um.
Sie tauchte in den Schatten der Bäume, als sie den Fußweg erreichte, der den Hang hinaufführte. Sie hastete weiter, an Häusern vorbei und durch Gärten, immer höher und in den Wald hinein. Ihr T-Shirt klebte an ihrem Körper, Schweiß rann ihr übers Gesicht. Sie riss die Schirmmütze vom Kopf und steckte die Kappe während des Laufs in ihre Hosentasche. Irgendwo hinter ihr erklangen Rufe, Stimmen. Das Adrenalin raste durch ihren Körper und trieb sie vorwärts. Sie musste den Wagen erreichen, bevor sie Hubschrauber einsetzten und Straßensperren aufbauten.
Endlich tauchte der Nissan vor ihr auf. Erschöpft fiel sie auf den Fahrersitz und startete den Motor. Das Navigationsgerät zeigte
Offroad,
aber sie kannte die Umgebung der Stadt und fuhr auf dem schmalen, zugewachsenen Forstweg weiter in den Wald hinein. Die hohen Nadelbäume standen so dicht, dass zwischen ihnen kaum ein Stück Himmel zu sehen war. Solange sie im Schutz der Bäume blieb, hatte sie eine Chance.
Nach einer Stunde Fahrt auf den holprigen Waldwegen hielt sie an, fuhr den Wagen ins Dickicht und stellte den Motor ab. Vor ihr lag eine der Schutzhütten, wie sie hier überall für Wanderer standen. Ein kleiner Bach plätscherte neben dem Weg. Sie kniete nieder, wusch sich das Gesicht und trank durstig. Die Wunde an ihrem rechten Arm pochte, der Ärmel ihrer Jacke war aufgerissen und
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