Die Marionette
hatte er völlig den Bezug zur Zeit verloren. Er hatte keine Ahnung, wo sie waren, noch, wie viele Tage seit seiner Entführung vergangen waren. Diesmal half all seine Beherrschung nichts. Vergeblich kämpfte er gegen den übermächtigen Brechreiz an. Die Flasche fiel aus seinen gefesselten Händen, er kippte vornüber halb aus der offen stehenden Hecktür des Wagens heraus und erbrach sich hustend auf den Waldboden.
Katja Rittmer saß neben ihm, als er wieder zu sich kam, und er war beinahe dankbar dafür. Ihm war kalt, sein Magen schmerzte und sein Puls raste. Aber er nahm die Symptome seines Körpers nur am Rande wahr. Eine seltsame Leichtigkeit hatte sich seiner bemächtigt.
Sie spritzte Wasser in sein Gesicht, zwang ihn erneut, zu trinken.
Er presste die Lippen aufeinander. Mit Gewalt öffnete sie seinen Mund. Wieder würgte er, schmeckte bittere Galle auf seiner Zunge.
Er wusste nicht, wie lange er auf dem Waldboden gelegen hatte, von Krämpfen geschüttelt. Er hatte das Gefühl, alles herausgewürgt zu haben, was er jemals in seinem Leben zu sich genommen hatte. Jetzt war es vorbei, und er fühlte sich unendlich leer und müde, aber die Benommenheit war gewichen. Katja Rittmer hatte ihm die Fesseln abgenommen und eine Decke über ihn gelegt. Sie saß jetzt mit dem Computer auf ihrem Schoß an einen Baum gelehnt und hatte nicht bemerkt, dass er aufgewacht war. Bender studierte ihr Gesicht, die Verletzlichkeit, die ihr Mund offenbarte, die Einsamkeit in ihren Augen. Sie schien seine Gegenwart völlig vergessen zu haben. Es geschah immer wieder. Sie war so auf eine Sache fokussiert, dass sie alles andere ausblendete. Und er begriff, dass das vermutlich seine letzte Chance war. Seine Füße waren nicht gefesselt. Keine Türen verschlossen seinen Fluchtweg. Und die Ex-Soldatin war noch immer angeschlagen, er sah es ihr an. Er reckte seine Beine, schob behutsam die Decke zurück. Zentimeter für Zentimeter rollte er sich aus ihrem Blickfeld in das nahe Dickicht. Wartete. Nichts geschah. Er ignorierte das Zittern, das seinen Körper nach der nur kurzen Anstrengung durchlief, den Schweiß, der ihm ausbrach. Er dachte an das Laufband in seinem Büro. Er trainierte täglich. Er würde es schaffen. Behutsam, um nur ja kein Geräusch zu machen, schob er sich weiter ins Unterholz. Der weiche, vom Regen noch feuchte Waldboden verschluckte jedes Geräusch. Seine Knie wollten ihn zunächst nicht tragen, als er sich wie nach einer Ewigkeit zum ersten Mal aufrichtete. Er fiel, rappelte sich erneut auf. Die rauhe Rinde der Bäume riss seine Hände auf, Äste verhakten sich in seiner Kleidung, als er Halt suchend zwischen ihnen hindurchstolperte.
Sie war über ihm, bevor er sie überhaupt hörte. Blieb einfach auf ihm liegen, nachdem sie ihn zu Boden geworfen hatte. Er spürte ihren harten, muskulösen Körper an dem seinen, das Klopfen ihres Herzens. »Mach das nie wieder«, zischte sie, ihr Atem heiß an seinem Ohr, während sich der Lauf ihres Revolvers in die Kuhle seines Nackens drückte, gleich unterhalb des Schädelknochens. »Zwing mich nicht, etwas zu tun, das wir beide nicht wollen.«
Es klickte.
Während ihm wider Willen und in Bruchteilen einer Sekunde die Frage durch den Kopf raste, ob eine Kugel aus dieser unmittelbaren Entfernung tatsächlich seine Schädeldecke sprengen würde, begriff er, dass er noch lange nicht jenseits der Angst war. Er öffnete den Mund und schrie sie in einem langen, verzweifelten »Nein!!!« heraus. Doch es passierte nichts. Der Schuss ging nicht los. Ob beabsichtigt oder nicht, würde er nie erfahren. Katja Rittmer zog ihn vom Boden hoch und schubste ihn vor sich her zurück zu dem dunklen Geländewagen neben der Schutzhütte.
***
Calw, Deutschland
Martinez blickte auf die Verwüstung, die die Explosion in der kleinen Seitenstraße der Altstadt von Calw hinterlassen hatte. Fenster- und Schaufensterscheiben waren geborsten, Fensterläden abgerissen, die zersplitterten Teile eines großen Holztors lagen über das Kopfsteinpflaster verteilt. Das gepanzerte Fahrzeug hatte die Detonation größtenteils abgefangen, war jedoch bei seinem Überschlag mit voller Wucht in eine der historischen Häuserfassaden geprallt. Zivile Opfer gab es nicht, aber die beiden Insassen des Fahrzeugs, Beamte des SEK , des Sondereinsatzkommandos der baden-württembergischen Landespolizei, waren sofort tot gewesen. Sie hatten nur noch ihre Leichen bergen können.
Es wurde eng für Katja Rittmer.
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