Die Marketenderin
Feinde – die unseren Plünderern übrigens auch mehr als die Hälfte der Beute wieder abgenommen haben.«
Matthäus schlug die Hände vors Gesicht.
»Ein Glas Branntwein?« fragte Felix und reichte es ihm. Matthäus trank es in einem Zug aus und blickte dann betroffen in das leere Glas.
»Keine Sorge, wir haben mehr«, lachte Johannes, griff zu einer Karaffe und schenkte dem Korporal wieder ein. »Für morgen hat Napoleon die Marschälle wieder zum Kriegsrat geladen, Oberst von Röder nimmt an, daß es gleich danach weitergeht.«
»Mit dem Sterben?« kam eine Stimme von der Tür.
Erschrocken blickten die drei Männer zu Juliane, die sich am Türrahmen mühsam festhielt. Ihr Haar hatte sich gelöst und ergoß sich in dunklen Wellen über ihre Schultern bis zur Taille. Sie war kreidebleich und die fast schwarzen Augen schienen noch tiefer in den Höhlen zu liegen.
Wie eine Schlafwandlerin wankte sie ins Zimmer und ließ sich auf einen freien Sessel fallen, ehe Johannes, der auf sie zugeeilt war, sie stützen konnte.
»Ich habe geträumt«, sagte sie tonlos. »Einen furchtbaren Traum. Ihr alle …«, sie hob die linke Hand in einer unbestimmten Bewegung und Johannes sah Blut an ihrem linken Ellenbogen, »… ihr alle wart verschwunden unter … unter Bergen von Menschen und die hatten … die hatten alle offene Augen!« Die letzten Worte schrie sie so laut heraus, daß die Männer ihren Branntwein verschütteten.
»Sie ist verrückt geworden«, sagte Felix nur.
»Erschöpft«, meinte Johannes, »das arme Mädchen ist völlig erschöpft.«
Ratlos blickten die Männer zu ihr hinüber. Sie richtete sich auf, griff nach einem Glas und schenkte sich Branntwein ein.
»Nein, meine Herren«, sagte sie mit ganz normaler Stimme. »Ich bin nicht verrückt geworden, die Welt ist es. Ich bin nicht die alte Selma, die in die Zukunft sehen kann, aber ich weiß, daß mir Gott nicht grundlos einen solchen Traum schickt.«
Sie nippte am Branntwein, trank dann den Rest in einem Zug aus. Ihr Gesicht bekam wieder Farbe und ihre Augen blitzten Johannes beinahe belustigt an, als sie sagte: »Keine Angst, ich weiß, daß es dadurch nicht besser wird.«
Woher kommt plötzlich meine Kraft?, fragte sie sich verwundert. Vor einer Minute noch konnte ich kaum gehen und jetzt fühle ich mich stark genug, um bis nach Polen zu rennen. Es ist gut, daß ich den Traum nicht für mich behalten habe.
Marschall Ney, der am 21. August Napoleon davon hatte abhalten wollen, bis nach Moskau vorzudringen, meldete sich beim Kriegsrat am 14. November nicht zu Wort. Er nickte nur, als der sofortige Aufbruch des Heeres beschlossen wurde. Napoleon vermied es, den Marschall anzusehen, der vorhergesagt hatte, der tollkühne Zug nach Moskau würde Verderben bringen.
Noch am selben Tag brach der Kaiser mit seinen Garden auf und am folgenden Tag der Rest des Heeres. Es ging wieder Richtung Krasnoë und Orza. Den Garden folgten die aufgelösten Haufen der Reiterei, die diesen Namen eigentlich nicht mehr verdiente, da die meisten Männer unberitten waren, während die anderen auf Cognias, wie die kleinen russischen Landpferde genannt wurden, saßen. Das vierte und das erste Armeekorps schlossen sich an, und wie immer mußte der von Napoleon besonders geschätzte Marschall Ney mit dem dritten Korps die Nachhut übernehmen.
Mit knirschenden Zähnen überbrachte Oberst von Röder seinen Leuten einen besonderen Auftrag: Sie sollten bei ihrem Abzug am 17. November die Festungswerke in die Luft sprengen und die Überbleibsel der unglücklichen Stadt zerstören.
Als nach Mitternacht am 17. November Marschall Ney mit 9000 Fußsoldaten aus Smolensk abmarschierte, nahm Petrus wieder Partei für die Russen, wie es Oberst von Röder Gerter gegenüber formulierte. Ein orkanartiger Sturm kam auf und wildes Schneegestöber begleitete den Zug. Ohne Reiterei konnte die Stellung des Feindes nicht erkundet werden, und selbst der Kaiser wußte nicht, was ein paar hundert Meter weiter entfernt auf der Heerstraße vorging.
Weit hinter dem Kaiser erhellte ein Blitz die nächtliche Finsternis und mit einem donnerähnlichen Getöse flogen die Festungswerke in die Luft und schleuderten zerrissenes Gemäuer umher. Durch vorher angelegte Minen folgten in gemessenen Abständen weitere solche Entladungen. Aus dem brennenden Zeughaus flogen glühende Brocken empor.
Immer wieder sah sich Juliane nach dem Feuerwerk um. Ihre Wangen waren tränennaß.
»In dieser Stadt hätte ich
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