Die Marketenderin
Schöneres geben? Sie griff sich an den Bauch. Hatte sich ihr Kind eben bewegt? Wie so oft in den vergangenen Tagen sprach sie zu ihm, nicht laut, sondern nach innen, da wo es heranwuchs.
»Das Hungern ist zu Ende«, sagte sie ihm. »Jetzt wirst du wieder gesunde Nahrung kriegen, die wirst du brauchen, mein Kind, um groß und stark und klug zu werden. Klug mußt du vor allem werden, denn du mußt einmal dafür sorgen, daß es nie wieder Krieg geben wird. Wenn du groß genug bist, werde ich dir meine Handschrift zeigen und du wirst meine Botschaft in die Welt hinaustragen. Nie wäre dieses Unglück passiert, wenn nicht 600.000 Menschen Napoleon gefolgt wären. Menschen werden nachwachsen, wie du, mein armes, noch ungeborenes Kind, aber du mußt ihnen zeigen, daß sie der Macht nicht hilflos ausgeliefert sind.«
Das Stadttor von Smolensk war nur noch wenige Meter entfernt, gleich würden sie bei Johannes sein, der sie bestimmt mit einem Zitat aus einem seiner Bücher empfangen würde. – Bücher? »Bücher!« Sofort nahm sie das Gespräch mit ihrem Kind wieder auf. »Du sollst Bücher machen! Denn damit erreichst du die Menschen. Alle Menschen!«
Sie staunte darüber, wie dieser Feldzug sie verändert hatte, denn sie konnte sich noch gut daran erinnern, daß sie früher Bücher lesende Menschen verachtet hatte.
Wie dumm ich war, dachte sie, und wie überheblich. Ich habe doch tatsächlich geglaubt, daß meine Ansichten das Maß aller Dinge seien und mich Bücher nichts lehren könnten, was für mein eigenes Leben wichtig wäre. Ich dachte, daß sich nur solche Menschen in Bücher vergraben, die nicht richtig zu leben verstehen. Jetzt wünschte ich, daß ich nicht nur Kreditbücher gelesen hätte, bevor ich mit dem Schreiben begonnen habe, aber es ist nicht zu spät. Johannes wird mein Wegweiser sein, er lebt, er lebt! Und wenn ich mit ihm über Bücher sprechen kann, wird vielleicht mein Herz zum Schweigen kommen.
Voller Zärtlichkeit blickte der Korporal auf seine Frau, die mit einem glückseligen Lächeln auf den Lippen an ihn gelehnt eingeschlafen war. Der Lärm in der Gasse, in die Felix ihm vorausgeritten war, drang nicht zu ihr durch und als Felix auf ein altes, unbeschädigtes Gebäude hinwies, hielt er sacht den Wagen an.
Johannes, der an der Tür auf sie gewartet hatte, sprang herbei und griff nach den Zügeln des Pferdes.
»Hier ist nicht Moskau, nicht Despotenmacht …«, begann er fröhlich zu deklamieren, fuhr flüsternd fort, als Matthäus den Finger auf die Lippen legte und zur schlafenden Juliane nickte: »… schnürt hier die freie Seele zu. Hier darf die Wahrheit wandeln mit erhobenem Haupt und so sage ich dir, Matthäus, alles ist verloren, aber wir vier sind fürs erste gerettet!«
Vorsichtig hob er Juliane vom Bock, stieß mit dem Fuß die angelehnte Haustür auf und stieg mit der schlafenden Frau eine Treppe bis zum Dach hinauf.
»Sie kommen am besten mit in die Gaststube«, sagte Felix zu Matthäus, als ob er selbst der Hausherr wäre.
»Wo sind wir hier?« fragte Matthäus und sah sich verwundert in einem prächtig eingerichteten sauberen Wohnzimmer um.
»Beim Stabsfourier Hekenberger«, lachte Felix.
»War der nicht früher bei unserer Kompanie?«
»Stimmt, aber jetzt versorgt er seit drei Monaten den verwundeten General von Koch …« Felix deutete mit dem Zeigefinger nach oben, »… und hat seit dieser Zeit die Aufsicht über die Bäckerei und andere Lebensmittel, die für die verwundeten Offiziere und Soldaten bestimmt sind. Er ist ein alter Freund vom Herrn Oberleutnant und hat ihm erlaubt, Sie beide hier ebenfalls unterzubringen.«
Gott behüte Johannes Gerter, dachte Matthäus dankbar.
»Kehrt jetzt wieder Ordnung ein?« fragte er Johannes, als dieser wenig später das Wohnzimmer betrat und sich seine Pfeife ansteckte.
»Es wird zumindest versucht, die Reste der Korps wieder zu organisieren, ihnen Waffen und Munition und so weit wie möglich Lebensmittel auszuhändigen.«
Auf Matthäus' Frage, wie viele Männer die Große Armee denn noch zähle, gab Gerter nur zögernd Antwort.
»Die Zahl, mein lieber Matthäus, soll geheim bleiben, um die Soldaten nicht noch mehr zu demoralisieren. Aber dir kann ich es ja sagen – Weniger als 80.000 Männer haben diesen Hafen der Ruhe erreicht, und mehr als die Hälfte ist unbewaffnet. 20.000 Männer sind erfroren und verhungert auf der Strecke geblieben, mindestens 10.000 Soldaten und 400 Kanonen sind in der Gewalt der
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