Die Marketenderin
leben können«, sagte sie zu Matthäus. »Irgendwie erinnerte sie mich an Stuttgart.«
»Aber mein Augapfel«, sagte er, »das ist doch eine russische Stadt.«
»Deshalb verbrennen wir sie ja«, erwiderte sie. »Was würdest du fühlen, wenn man Stuttgart verbrennt?« Ohne auf seine Antwort zu warten, fuhr sie fort: »Mir fielen gerade wieder die Dienstvorschriften ein, die Georg früher so gern zitiert hat. Weißt du noch?«
Matthäus nickte. »Pflichten, Rechte und Dienstverrichtungen des gemeinen Soldaten der Königlich-Württembergischen Infanterie in Fragen und Antworten«, verbesserte er sie.
»Genau die. Da war doch ein Absatz über Verheerungen?«
»Der Soldat muß sich den Fall denken, wie es seinen Eltern und Verwandten zumute sein würde, wenn die Feinde sein Vaterland verheerten«, zitierte Matthäus leise und fügte hinzu: »Gott helfe uns, wenn die Russen nach Stuttgart kommen.«
»Siehst du, das meine ich.«
In dumpfer Verzweiflung schritten die Soldaten weiter und Juliane merkte, daß sich der Zug der Zivilisten enorm gelichtet hatte. Da es jetzt bergauf ging, wunderte sie sich nicht, immer mehr Kanonen und Gepäck am Wegesrand zu sehen. Felix erwies sich in diesen Tagen als ein guter Geist. Immer wieder tauchte er auf und empfahl ihr den Wagen anzuhalten, da es weiter vorn wieder Gefechte gäbe.
Sie konnte sich nicht vorstellen, daß ein so geschwächtes Heer, das nicht einmal über eine Reiterei verfügte, immer noch zu kämpfen imstande war, aber sie mußte Felix glauben, da sie oft an blutroten, mit Leichen bedeckten Schneeflächen vorbeikam. Es ging langsam, aber zügig weiter, über Krasnoë bis nach Liady, das erste Städtchen Litauens, und jedesmal, wenn Felix auftauchte und verkündete, daß Johannes noch lebte, hätte Juliane ihn am liebsten geküßt.
Matthäus war nur noch ein Schatten seiner selbst. Er wußte jetzt, daß sein Bein ihm nie wieder erlauben würde, Korporal zu sein.
»Ich bin ein Krüppel«, sagte er zu Juliane, »und ich will nicht, daß du aus Mitleid bei mir bleibst.«
Entsetzt starrte sie ihn an, unterdrückte das übermächtige Bedürfnis, ihm von ihrer Schwangerschaft zu erzählen, und zog ihn an sich.
»Sonst fällt dir nichts ein?« fragte sie zärtlich.
Aus dem Schneetreiben löste sich die Figur von Felix, der nur atemlos von sich gab: »Jetzt ist der Ney verrückt geworden.«
Hastig berichtete er, daß ein russischer Oberst von einer Anhöhe heruntergestürmt war und dem Marschall mitgeteilt hatte, Fürst Kutusow schicke ihn und mache ihm den Vorschlag sich zu ergeben, da auf den Höhen 80.000 Russen mit 100 Kanonen stünden. Der Marschall aber habe den Russen zum Gefangenen erklärt und zum Angriff blasen lassen.
»Und, und!« fragte Juliane ungeduldig.
»Beinahe alle tot oder gefangen«, erwiderte Felix. »Der Marschall zieht jetzt mit 1600 Mann und zwei Kanonen auf einem Seitenweg weiter. Wer hat noch mal behauptet, Marschall Ney sei ein genialer Feldherr?«
Ney traf nach mehreren Gefechten mit dem traurigen Rest von 800 Soldaten am 21. November in Orza wieder auf das übrige Heer. Inzwischen waren auch Minsk und Borisow verloren. Doch auch jetzt war der Kaiser noch nicht bereit einzugestehen, daß er auf der ganzen Linie verloren hatte. Er befahl den Truppen so schnell wie möglich zur Beresina zu marschieren, denn er fürchtete, daß ihnen die Russen den Übergang abschneiden und damit ein Entrinnen aus Rußland unmöglich machen würden. Bei einsetzendem Tauwetter, das die Heerstraße in eine Schlammwüste verwandelte, bewegte sich der Rest der Großen Armee in tiefem Schweigen sehr langsam auf den Fluß zu.
In ungeordneten Reihen schleppten sich die meisten Soldaten an Stöcken weiter. Sie hatten um ihre erfrorenen Füße Schaffelle, Decken oder alte Hüte gebunden. Selbst die Generäle trugen durchlöcherte Pelze, die vor Schmutz starrten und in denen Armeen von Läusen wohnten. »In dieser Hinsicht«, sagte Graf von Scheeler, der zu Fuß neben Oberst von Röder schritt, »ist in diesem Krieg der General dem einfachen Soldaten gleichgestellt.«
Gerter traf noch vor Napoleons Garden an der Beresina ein und war höchst erfreut über den Anblick der dort wartenden Korps, die erheblich weniger mitgenommen aussahen als der Rest des Heeres. Diese Truppen waren auf dem Marsch nach Moskau in den besetzten Städten geblieben, hatten jetzt flüchten müssen und wollten sich der Großen Armee wieder anschließen. Gerter stieß auf die Reste des
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