Die Marketenderin
jetzt ging ihm auf, welchen Gedanken er in den letzten Tagen immer wieder unterdrückt hatte, den Gedanken, daß Juliane tot und für immer aus seinem Leben verschwunden sein könnte. Als Matthäus auf die Anhöhe hinter sich deutete, zu dem Steinhäuschen, neben dem der Wagen der Assenheimerin zu erkennen war, atmete Johannes erleichtert auf.
Matthäus fragte ihn nach den Württembergern. Gerter konnte ihm die ungefähre Stelle angeben, wo die Württemberger tatsächlich in Reih und Glied auf den Übergang warteten.
»Es scheint, daß unsere Landsleute sich noch als einzige eine Art von Disziplin bewahrt haben«, bemerkte er und bat Matthäus auch nach Felix Ausschau zu halten, den er im Gedränge verloren hätte.
Sie verabredeten sich beim Steinhäuschen und mit klopfendem Herzen wendete Gerter sein Pferd. Juliane, dachte er, Juliane, die Welt, in der wir leben, hat mich verrückt gemacht, wie ist es anders zu erklären, daß ich so ein wahnsinniges Verlangen nach dir habe?
Juliane hatte Matthäus hinterhergeblickt, bis ihn die Menschenmassen verschluckten. Sie betete, daß er wiederkommen, sie nicht allein in dieser verrückt gewordenen Welt zurücklassen würde. Inmitten des Getümmels kam sie sich einsamer vor als je zuvor in ihrem Leben, sie drückte die Hand gegen den Bauch und war enttäuscht, daß sich nichts regte. »Schlaf ruhig, mein Kind«, murmelte sie in sich hinein. »Es ist besser, wenn du nichts von dem mitkriegst, was ich jetzt sehe, nichts von dem, was auf uns wartet.«
Am anderen Ufer des Flusses blitzte etwas auf, ein lauter Knall ertönte und neben der Brücke mit den Fahrzeugen spritzte eine Fontäne in die Höhe.
»Wir kommen da nie rüber«, murmelte sie wieder. Gott hat seine Hand von uns gezogen, er straft uns jetzt, weil wir uns mit dem Teufel verbündet haben, er straft uns, weil wir nicht auf unser Gewissen gehört haben, sondern dem Befehl des Königs blindlings gefolgt sind. Wir sind alle verloren.
Bei dem Gedanken, daß sie in den nächsten Stunden würde sterben müssen, überkam sie eine seltsame Ruhe. Hätte sie jetzt einer Kanonenkugel ausweichen können, wäre sie stehen geblieben. Gott wollte sie strafen, weil sie blind und habgierig gewesen war, weil sie eine Frau erschossen und leidende Menschen ihrem Schicksal überlassen hatte. Sie erwartete keine Gnade. Sie verdiente keine. Sie war ein schlechter Mensch und würde jetzt für ihre Sünden büßen müssen.
»Juliane!« hörte sie einen Schrei und sie wischte sich über die Augen. Sollte Gott ihr doch noch eine letzte kleine Gnade gewähren?
Sie rutschte vom Bock, rannte auf den Reiter zu, der sich mit der Peitsche den Weg freibahnte, vom Pferd sprang, als er neben ihr angekommen war und sie an sich riß.
»Johannes«, flüsterte sie, »Johannes!«
Sie spürte seine Lippen auf ihrem Mund, gierig kam sie seinem Kuß entgegen, zitternd vor Kälte und vor Glück. Mit beiden Händen hielt sie seinen Kopf fest, als wollte sie ihn nie wieder loslassen.
Er löste sich von ihren Lippen und deutete dann auf das Steinhäuschen. Hand in Hand rannten sie die Anhöhe hinauf. Gerter blickte sich nicht nach seinem Pferd um und auch Juliane merkte nicht, daß ihre Stute verschwunden war.
Beide atmeten schwer, als sie in die Steinhütte stürzten und sich auf den harten, schmutzigen Boden fallen ließen. Johannes konnte den Blick nicht von Julianes Augen lösen, die ihn im Halbdunkel wie glühende Kohlen verbrannten. Ungeduldig zerrte er Julianes Rock hoch, hielt dann inne, als sich ihr Leib dem seinen entgegenhob.
»Nein, Juliane«, flüsterte er. Ich begehre sie nicht nur, ich liebe sie, schoß es ihm durch den Kopf. Ich will nicht nur meine Lust stillen, sondern auskosten, wonach ich mich so lange gesehnt habe!
Sie legte sein Zögern falsch aus. So nah am Ziel sah sie sich wieder abgewiesen! Sie stieß einen gequälten Schrei aus, schob Johannes zur Seite und rollte sich wie ein kleines Kind zusammen. Betroffen beugte er sich zu ihr hinunter, berührte sie sanft an der Schulter.
»Juliane«, er wiederholte immer wieder ihren Namen. Sie barg den Kopf zwischen ihren Armen und bebte am ganzen Leib. »Juliane, ich liebe dich.«
Er legte sich neben sie. Das Zittern ließ allmählich nach, als er langsam mit beiden Händen über ihren Körper fuhr. Noch nie hatte er so viel Zärtlichkeit für einen Menschen empfunden, noch nie eine solche Sehnsucht nach einer Frau verspürt. Langsam drehte er sie zu sich um, küßte die Tränen
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